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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Bermsthaler Dorfstraße entlang, den Weg, den er schon vier- oder fünfmal gegangen war mit ihr, und nie war das gewesen, was er anfangs gedacht hatte. Damals in der Bahnhofskneipe hatte er gedacht: das ist also so eine. So eine war sie aber nicht. Er hatte bloß keine Ahnung, was für eine sie wirklich war.
    Sie gingen an der Halde entlang, hinter der Papierfabrik, und manchmal kam von sehr weit oben ein Klingelzeichen, oder es kam Geröll gerutscht; weit weg waren ein paar Lichter. Sie stiegen über die Gleise des Bahnhofsgeländes, wichen den Weichen aus, den Signaldrähten. Dann kam eine Rangierlok. Sie ließen die Lok vorbei, aber der Heizer entdeckte sie. Der Heizer hatte etwas gegen Leute, die bei Nacht im Rangiergelände herumkletterten, er fing also an mit Briketts zu schmeißen. Die trafen zwar nicht, weil Peter auswich, aber er sah nicht, wohin er auswich: auf einmal brach er ein.
    Er rutschte in eine Entwässerungsrinne, der Schmerz fuhr ins Fußgelenk. Auf den Knien rutschte Peter über den Gleiskörper, tastete sich an den Schwellenstapel, tastete den Fuß ab. Ingrid kam und half ihm. Eine Verstauchung vielleicht. Er versuchte aufzustehen, das gelang erst beim dritten Versuch.
    Später, als er am Bach entlang humpelte, fiel ihm ein, daß er das ungefähr schon einmal erlebt hatte. Damals, im strengen Winter fünfundvierzig. An der großen Kurve vor dem Kohlenbahnhof, Furth, Chemnitz.
    Sie standen jeden Abend dort, zwanzig Mann, manchmal ein paar Mädchen, jeden Abend warteten sie auf den Zug, der in der Kurve die Geschwindigkeit verringern mußte. Sie standen in Zweiergruppen, der eine sprang, warf Briketts herunter, der andere sammelte auf, von der Konkurrenz belauert. |94| Peter war Springer gewesen, Sacker war sein Freund Mäcki Selbmann. Manchmal kamen sie auf einen halben Zentner pro Abend. Und manchmal mußten sie das Weite suchen, Gelände gewinnen, da rückten die Eisenbahner an mit Knüppeln, Bahnpolizei in der Hinterhand, Hilfspolizei. Manchmal blieb der Zug auch aus. Da hatte er sich also den Fuß verknackst, beim Absprung, als gerade die Eisenbahner anrückten, die holten ihn ein. Die gingen nicht zimperlich mit ihm um. Und dann brachten sie ihn zur Wache. Da saß er die ganze Nacht, bis sie schließlich doch seinen Namen heraushatten, die Anzeige kam drei Tage später. Und mit der Anzeige kam die zweite Tracht. Mit dem Militärkoppel hatte der Stiefvater ihm das elfte Gebot eingebleut: Du sollst dich nicht erwischen lassen!
    Das waren so Erinnerungen. Davon ist der Mensch voll, es muß bloß ein Anlaß sein.
    »Na«, sagte Ingrid, »geht’s?«
    »Ja«, sagte er. »Geht schon.«
    So gingen sie durch das Dorf, bergauf, über den Marktplatz gingen sie und am »Gambrinus« vorbei und am Rathaus, immer bergan. Die Luft trug Nachtgeräusche von weit her, manchmal hörten sie auch die Erzkipper am Berg oder die Signale der Haldenlok, seltener Stimmen. Das Haus lag auf halbem Weg dem Hundshübel zu, wo der Wolfsgrüner Weg abzweigte. Man konnte von hier aus schon weit übers Tal sehen.
    Im Oberstock war noch Licht, aber darunter, wo Zellners Untermieter wohnte, war alles dunkel. Sie hofften, unbemerkt am Eckfenster vorbeizukommen, hinter dem Ingrids Eltern schliefen. Peter kannte das schon. Die Frau Zellner lag den ganzen Tag, man wußte nie, ob sie wach war. Er hatte schon paarmal in dieser Haustür gestanden, wo der Wind nicht hinreichte, und wo man auch nicht gesehen werden konnte von irgendwem. Sie kamen auch diesmal vorbei. Sie kamen zur Haustür und standen eine Weile, er spürte wieder den Schmerz in seinem Fuß. Er schimpfte ein bißchen und |95| versuchte den Fuß auszuruhen, aber das war nichts Rechtes. Sie sah ihm zu, und auf einmal sagte sie: »Komm.« – Sie nahm einfach den Hausschlüssel aus ihrer Tasche und öffnete. Sie machte aber kein Licht. Er war noch nie in diesem Haus gewesen. Sie nahm seine Hand und führte ihn durch den dunklen Flur.
    Sie waren aber doch bemerkt worden. Als sie in Ingrids Zimmer kamen, hörten sie Stimmen nebenan, die konnte er nicht verstehen.
    Ingrid sagte: »Es ist auch egal, sie hätten es ja doch erfahren.«
    Sie ging durchs Zimmer und ordnete ein paar Sachen, sie hängte Peters Mantel an einen Haken, sie wollte sich nichts anmerken lassen. Das Zimmer war schmal. Von der Straße schaukelte das Licht einer Laterne herein. Aber die Stimme war nun doch zu laut, als daß sie hätte überhört werden können. »Du Schlampe!« sagte die Stimme. »Du

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