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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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glorreichen Heldentaten gezeugt hatte, von der Maas bis an die Memel und von Danzig bis Burgund, just diese Stimmung. Woher aber sollten sie ihr Faß nehmen, der unbefriedigte Schipper dreitausendelf, der zum Dreckfresser degradierte Jungsiegfried, woher? Woher, wenn die Menschheit plötzlich nur so vor Friedfertigkeit strahlte? Wenn die Moral ihr aus allen Knopflöchern quoll? Wenn sie ihre Ruhe haben wollte und alles niedersegelte, was nur irgend aus der Norm ragte? Da saßen sie nun, die Spätgeborenen des großdeutschen Schlußverkaufs, und eine Epidemie in Frömmigkeit war ausgebrochen über Nacht, und die Impotenten freuten sich halbtot, da saßen sie nun und suchten den entgötterten Himmel ab und den gestohlenen Horizont, suchten die Abenteuer und den enormen Wind, und suchten in Wahrheit ein Vaterland.
    Und die Horde brach nun auf.
    So brach die Horde auf, brach auf zur Überschlagschaukel, den Rekord zu brechen, den Peter Loose hielt mit zweiundzwanzig Überschlägen. Sonst war nämlich nichts mehr los. Das Kettenkarussell hatte vor zwei Tagen die Konkurrenz umgekippt, so ein bißchen zum Spaß, auch die Preisboxer von der Schaubude hatten ihre Dresche weg, die benachbarte Tobrukbande hatte es ihnen besorgt, und auch die Polizei hatte man bereits vom Platz eskortiert, am ersten Abend gleich, sozusagen freiwillig war sie abgezogen durch das Spalier, immer |87| vor der nachrückenden Menge her, ein ergreifender Anblick. Fast so ergreifend wie die Sache mit der Bahnpolizei. Die hatte in Johannstadt nämlich den Zug nicht abfahren lassen wollen, weil er zu voll war, und daraufhin war sie verdroschen worden, so an die zehn Mann hoch. Und drei Stationen weiter talwärts waren sie wieder angerückt, so an die dreißig Mann, die über Telefon und Telegraf schnell zusammengetrommelt worden waren, und wollten den Zug anhalten, und waren selbstredend wieder verdroschen worden, aber prompt. Und als der Zug nach Schlema kam, da rückte die Polizei wieder an, diesmal mit sechzig Mann, und wieder bezog sie ihre Keile, und der Zug fuhr weiter, fuhr bis nach Zwickau, und die Kumpels im Zug waren nun auf mindestens hundertfünfzig Mann gefaßt, denn in Zwickau hatte die Bahnpolizei ein größeres Aufgebot zur Verfügung. Das Aufgebot kam aber nicht. Bewahre. Statt dessen kam ein bißchen Sowjetarmee, vierzig Mann ungefähr, Maschinenpistolen über der Brust. Und das reichte auch. Da war auf einmal Ruhe in der Landschaft. So war das gewesen. Und fast so ergreifend war dann die Sache auf dem Rummelplatz, vor ein paar Tagen, mit der freiwillig abziehenden Polizei. Aber das war nun vorbei. Das gab nichts mehr her.
    Der Rekord auf der Überschlagschaukel aber, das war noch was. Da wurde sogar das Radieschen munter.
    Also johlte die Horde über den Platz, über gewalzte Schlacke und evakuierte Gräber hin, der Luftschaukelbesitzer sah sie anrücken. Er schob den Jungen beiseite, der die Kähne bremste, denn der Mann kannte seine Leute: Jetzt mußte er selber ran. Zwei Überschlagkähne hatte die Schaukel und sechs harmlose, die kamen bei hundertsechzig Grad schon wieder runter. Und die Überschlagkähne, die nahm der Schaukelbesitzer jetzt selber, pflanzte sich breitbeinig an die Bremshebel, der Mann war allerhand gewöhnt in seiner Branche, Schausteller seit neunzehnhunderteinundzwanzig, hatte sich durchgeschlagen über alle großdeutschen Rummelplätze, |88| hatte zuerst eine Schießbude besessen, dann eine Schießbude und ein Riesenrad, dann zwei Schießbuden und ein Riesenrad und eine Luftschaukel, und die Luftschaukel besaß er noch, und er wußte, daß er jetzt höchstpersönlich an die Bremse mußte, das wußte er, und da war die Horde auch schon heran. Einer aber aus der Horde kletterte auf das rotweiße Geländer und brüllte: »Eine Runde zum ersten, wer den Rekord bricht!«
    So fing es an, und es fing ganz normal an. Doch ein anderer aus der Horde, so ein Langer, Schmächtiger, der drängelte sich jetzt zu dem auf dem rot-weißen Geländer durch und sagte: »Guck mal, wer da kommt!« Und Peter Loose sah hin, sah nur ganz kurz hin, und dann stieg er vom Geländer.
    Sie kam geradewegs auf ihn zu, Ingrid mit dem Talmikettchen, mit Händen, die rot waren und durchsichtig von der Kälte des Spülwassers, und mit dem fahlblonden Haar, das sie sehr glatt trug und sehr lang, und mit dem hungrigen Lächeln. Er wußte, daß sie heute Dienst hatte in der Bahnhofskneipe, hinter ihrem verchromten Schanktisch mit den grüngelben

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