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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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noch ehe er den dritten Satz beendet hat. Vorn links: Es lebe die deutsche Republik, vorn rechts: Über alles in der Welt, Mitte: Hunger, Hunger! Ein Dutzend Mädchen und: Der da hat mich angezeigt, der da hat mich in die Tripperburg gebracht; der da wird von einem Dutzend Burschen umringt und geht unter und Schreie und Stille. Es riecht nach Rauch, Fensterscheiben klirren, Betrunkene erklimmen das Kirchenportal. So kann es nicht weitergehen, das ist eine Stimme wie Stein so grau, wir können uns nicht zufriedengeben damit, daß unter dem Druck der Öffentlichkeit zögernd Fehler eingestanden werden, die, die Fehler begangen haben aber, bleiben uneingeschränkt an der Macht. Generalstreik! Die Regierung muß abtreten! Freie Wahlen! Gleiches Recht für alle! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Und hinten singen sie: Marschiert im Geist in unsern Reihen mit. Und der Brandgeruch wird stärker. Und im zertrümmerten Lebensmittel-Konsum prügeln sie sich um die Schnapsflaschen. Und der steinerne Roland dort, und der stumme Tonsetzer auf seinem Sockel, und die Kommandeuse von Ravensbrück kennt keiner, woher auch, sieben Jahre hat sie hinter sich von den fünfzehn, zu denen sie verurteilt ist – |617| sie spricht jetzt. Freiheit für alle Gefangenen. Und eine Regierung aus bewährten Männern. Da weiß freilich keiner, welche Art Bewährung gemeint ist, keiner hier kennt die Kommandeuse von Ravensbrück, soeben aus dem Zuchthaus herausgeholt, aufgenommen in den Führungsstab, die Mörder sind unter uns, aber wer kennt sie … Da sieht Christian Kleinschmidt ein Gesicht. Verliert es. Aber wer war das, wer ist das, bekanntes Gesicht in dieser fremden Stadt? Und die Vereinigung mit den Kommunisten muß rückgängig gemacht werden, wir Sozialdemokraten fordern … Hermann Fischer weiß, was da heraufkommt. Schutt der Vergangenheit, Blindheit, und das Teile und Herrsche, und das alte Konzept wieder, das immer der Reaktion voraufging, die alten Parolen wieder, und die Faschisten sind mitten unter uns, sie sind wieder da mit Großdeutschland und Heil und Gesängen. Hermann Fischer weiß, wer hier am Rad der Geschichte dreht, er kennt die Spur, er weiß die Richtung. Näher hin zum Denkmalssockel, näher hin! Welche sind da, die haben bittere Gesichter, die sind versteint unter diesen Gesängen, die haben sich das anders vorgestellt, das wäscht nun kein Regen ab – aber sie schweigen. Näher hin zum Denkmalssockel, näher hin. Und die da versteint sind, und die da stumm sind, auch sie sind die Hoffnung. Und denen die Gesichter grau werden, denen die Hände sich ballen in den Manteltaschen – näher hin. Was aber ist das: Hoffnung? Ist es die Wahrheit, die Wahrheit nur ist, solang sie nicht schweigt? Ist’s die Vernunft, die sich durchsetzt nur: wenn wir sie durchsetzen? Von der Maas. Bis an die Memel. Und diese Landschaft ohne Helden. Dies zentrale Experiment, welches die Natur sich leistet: die Menschheit. Und nun einer, der die Worte bedachtsam setzt, vernünftige Worte, da wird kein Pardon gegeben, er muß dem nächsten weichen: In dieser Schicksalsstunde, das Weiß im Auge des Feindes, erheb dich, du Volk, tilge die Schmach; was aber ist das, die Hoffnung? Wenn nicht die Stummen auch, die Fäuste in den Taschen, die bitteren |618| Gesichter – und die Tat, die sie sprechen macht? So legt er dem Jungen die Hand auf die Schulter, so sehen sie sich an, so wissen sie beide: das ist es.
    Zu Füßen des Denkmals steht Hermann Fischer, zieht sich hinauf auf den Sockel – und Christian Kleinschmidt hat das Gesicht wieder, ganz in der Nähe nun, da war eine Kneipe in Bermsthal, das ist lange her. In dieser fremden Stadt? War einer, den sie Emmes nannten, drei, die würfelten, sich voll Wodka laufen ließen, das Mädchen Ingrid hinter der fleckigen Theke, mit ihren schmalen Handgelenken, und mit Händen, die durchsichtig und rot waren von der Kälte des Spülwassers, und mit dem hungrigen Lächeln. Und Peter Loose. Steckbrief an den Wänden, fünftausend Mark, Eibteich, und keine Spur von dem, den sie Emmes nannten – aber das ist ihre Stunde, da sie hervorkommen, und drei Stunden Bahnfahrt nur von den beiden Städten Berlin. Der Platz von oben: Köpfe, Schultern, das wogt, das brandet heran. Und wollen immer aufsehn, zu denen, die höher stehen. Und in der Überzahl ist unsere herrliche Jugend, wir müssen was falsch gemacht haben mit unserer herrlichen Jugend. Nein, nicht jene sind jung, die, gelümmelt auf Wiesen, den

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