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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Fleischermeister Hiller beispielsweise, oder der Schachtzimmermann Müller, oder aber Bergschicker, und von denen, die noch da waren, rechnete jeder zweite mindestens mit Entlassung – was dachte Peter Loose? Und all die anderen, was dachten sie? Zacharias zum Beispiel: verlebte seinen dritten Urlaubstag in einem Kurheim des Thüringer Waldes, und es war sein erster Urlaub seit drei Jahren – hier war alles ruhig, die Ereignisse waren fernab, der Nachvollzug fand gesprächsweise statt. Zacharias, ein Berliner Journalist, ein Genosse Dr. habil. von der Humboldt-Universität. Nachmittags, die Funkberichte aus den beiden Städten Berlin waren gehört und erörtert worden, waren sie sich einig: Das faschistische Abenteuer würde zusammenbrechen. Allerdings, sagte der Dr. habil., die Rolle der sowjetischen Panzer. Der Journalist, mitten in einer schwierigen Satzkonstruktion: Wasser auf die Mühlen der rechten Sozialdemokratie; haben sie immer gesagt, und die Revolution frißt ihre eigenen Kinder; wenn wir uns zu sehr an der Französischen Revolution orientiert hätten, Jakobinerdiktatur. Ja doch, das ist der Dr. habil. wieder, wer die Revolution nicht will, der hat auch unsere Sorgen nicht. Und man nehme die SU, kapitalistische Umklammerung, Spionage und Sabotage im Innern, dann Bucharin, dann Trotzki, wie denn anders als mit eiserner Faust, oder etwa Nachsicht gegen Kulaken? Milde gegen Terroristen? Und wie denn industrialisieren, elektrifizieren, wenn nicht gegen wachsenden Widerstand des Feindes? Freilich, von den Lagern hatte Zacharias gehört, Ärzteprozesse, gewiß: Aber was ist nicht alles Flüsterpropaganda, Gerüchte, übrigens – was soll man mit Volksfeinden machen? Garantien, daß es nicht auch die eigenen Genossen treffen könnte? Und wenn sich zwei einig sind über Grundlagen und Ziel, nicht aber über Details, über Wegstrecken? Und wenn einer sehen kann, daß der Marxismus nicht so homogen ist, wie |613| mancher Theoretiker glauben machen möchte? Und wenn beispielsweise zwei marxistische Parteien, zwei sozialistische Länder, widersprüchliche Auffassungen hätten über den notwendigen weiteren Weg? Und welche Kritik ist möglich an Führungsansprüchen? Naja, sagte der Dr. habil., bei den Klassikern wird immer auf die Rolle des demokratischen Zentralismus und der sozialistischen Demokratie verwiesen, und er könne da eine Geschichte erzählen darüber, daß die Sowjetarmee beispielsweise, die diese Prinzipien zu verteidigen gehabt habe gegen den Überfall der deutschen Faschisten, den Faschismus nicht habe besiegen können mit Diskussionen und Parlamentarismus, sondern mit straffer Kommandoführung, Kommandeurprinzip; Diskussionen nach dem Sieg, aber doch nicht vorher. Es gibt da solche Vulgärtheorien, wissen Sie. Und die innerparteiliche Demokratie, nicht wahr, ist das eine, und Liberalismus ein anderes, ein drittes heißt Revisionismus, und so weiter. Will ich Ihnen ferner sagen: das weiß man, daß die Revolution allein den Wohlstand nicht herbeischafft, das Elend nicht beseitigt, die Rückständigkeit nicht überwindet, da muß schon der technische Fortschritt her, und, das wollen manche nicht wahrhaben: die Produktivkraft Wissenschaft. Aber erst muß der Klassenkampf immer die Voraussetzung schaffen, da haben Sie das ganze Problem. Sagte der Dr. habil. Und Zacharias, was denkt er …? Professor Kleinschmidt in seiner Wohnung, Messestadt Leipzig, denkt: War ja vorauszusehen, daß sich das nicht halten kann. Aber er war nicht froh darüber. Er saß an dem alten Radioapparat, Telefunken, und dachte: Morgen wird es diese Regierung nicht mehr geben, es wird diesen Staat nicht mehr geben, ziemlich vieles wird es nicht mehr geben, morgen, und es wird wohl wieder ein einheitliches Deutschland sein – dennoch behagte ihm dieser Gedanke nicht, er war ganz allein hier, auch sein Sohn war nicht mehr da, er fror. Ja, und was dachte der Professor Kleinschmidt noch? Überall in diesem Land, was dachten die Leute? Dieser hier, der ist bloß ein |614| alter Mann, und er denkt gerade etwas Falsches, wie er oft in seinem Leben etwas Falsches gedacht hatte – aber die anderen alle, Bewohner dieses Landstrichs, was dachten sie? Ja, einige sahen wohl schon, daß die Entscheidung lange gefallen war. Andere sahen es nicht, aber sie glaubten, und konnten von den vielen Möglichkeiten nur an eine glauben, für diese kämpften sie: ließen sich nicht aus ihren Betrieben locken, ließen sich nicht beirren, ließen sich

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