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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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durcheinander, keiner verstand etwas, es war, als ob ein Ventil geöffnet worden wäre. Zellner rief laut: »Der Arbeiter ist immer der Dumme, da brauch ich keine Versammlung erst!« Das hörten alle, und als ob sie alle dasselbe gemeint hätten, ebbte der Lärm plötzlich ab, fast so schnell, wie er entstanden war. Ruth hatte das mehrfach erlebt auf Versammlungen, und sie hatte gedacht: Es ist wirklich wie ein Ventil. Irgendwann, wenn der Druck ein geheimes Maß übersteigt, öffnet es sich – und hernach läuft alles weiter wie zuvor.
    Sie sagte zu Hahner: »Aber wahr ist es doch. Der Jungandres, wenn wir sonntags durcharbeiten, der ist immer da. Aber die anderen, die nie.« – »Natürlich«, sagte Hahner, und er lächelte. Soviel weiß man schließlich: Es kommt nicht darauf an, was einer sagt, wichtig ist bloß, wer es sagt. Einer, hinter dem nichts steht, der kann viel reden.
    |679| Ruth sah wieder zum Kesselhaus hinüber und zu der kahlen Kastanie; jemand hatte sich zu Wort gemeldet und sprach stockend. Es war das übliche. Auch Dörner meldete sich. Das müsse er ja nicht erst sagen, wie diese Wirtschafterei allen zum Halse heraushänge. Und diejenigen, die den Plan machten, von denen wäre auch zu verlangen, daß sie für Material sorgten und für Arbeitskräfte. Von nichts wird nichts, sagte Dörner. Und warum wird denn in der Wismut das Geld zum Fenster hinausgeschmissen, und hier hat einer das Salz nicht aufs Brot? Irgendwie kam das immer zur Sprache. Und irgendwie kamen sie immer drüberweg. Und wenn sie abstimmten am Schluß, waren dann doch fast alle für Überstunden und Sonntagschicht. Weil doch kein anderer Weg war. Und weil der Mensch doch etwas tun müsse.
    Als Ruth aufstand, war alles noch ungewiß. Der Saal war riesig, er hob sie herauf in eine besondere Stille. Sie hatte es sich lange überlegt, aber sie hatte nicht sprechen wollen, nicht hier, schon gar nicht heute. Sie hatte mit keinem darüber geredet bisher, auch mit Hahner nicht, der sie vielleicht angehört hätte, wenigstens das. Sie sah, wie der Dr. Jungandres aufmerksam herübersah. Sie war nicht sicher, ob überhaupt einer würde davon hören wollen – von den Maschinenleuten jedenfalls keiner, das war gewiß. Es war nicht der richtige Ort, und es war ganz sicher die falsche Zeit. Aber es mußte doch einmal ein Anfang gemacht werden …
    Immer die gleichen Gesichter, die gleichen Reden, die gleichen Auswege. Sogar die Auflehnung war wie eingelernt. Und nur die Männer immer: Männer, die redeten, bestimmten, an den Maschinen standen, auf allen wichtigen Plätzen – die Plätze, die leer waren, waren für Männer leer. Es war etwas Festes, wie alles, das üblich war. Aber vielleicht, daß sie sich doch einmal umsähen unter sich, nicht wie sonst immer, sondern als ob’s das erstemal wäre? Es möchte mancher sehen vielleicht, wie wenige sie waren – nicht einmal die Hälfte. Und wie viele Frauen. Überall, wo die Arbeit einfach |680| war und von altersher billig: im Papiersaal, am Querschneider, am Sieb und an den Aufzügen – überall, wo es wenig mehr war als Handlangerarbeit und schlecht bezahlt deshalb. Überall Frauen. Es fiel keinem mehr auf, und keiner sagte etwas, die Männer nicht und schon gar nicht die Frauen. Aber ist denn das vielleicht für die Ewigkeit? Wenn die Männer fehlen an den Maschinen, warum lernt ihr nicht Frauen an? Weil sie nicht wollen – aber ihr habt sie nie gefragt! Weil sie nicht können – aber ihr habt es nie versucht! Einen Grund, irgendeinen, wenn ihr ihn nennen wollt. Aber ein Grund muß es schon sein, der sich mit Händen greifen läßt, der nicht zwischen den Fingern zerrinnt – warum? Und dann sagte sie: »Ich weiß nicht, ich hab eigentlich gar nicht davon anfangen wollen, ich weiß auch nicht, wie das gekommen ist. Aber wenn wir ja doch bloß reden, und auf jeder Versammlung immer dasselbe, das ist bloß schade um die Zeit.«
    Erst hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können, dann brach alles auf einmal los. Männer- und Frauenstimmen wild durcheinander, und die Frauen, die sonst das wenigste sagten, sagten das meiste jetzt – es war aber gar nicht auszumachen, ob sie dafür waren oder dagegen: eher dagegen. Ruth unterschied nichts mehr, sie merkte nur auf einmal, daß sie ihr Taschentuch in der Faust preßte, sie hatte es wohl die ganze Zeit in der Hand gehabt. Kautsky gestikulierte aufgeregt am Präsidiumstisch, er hatte die Versammlungsleitung, aber niemand beachtete

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