0283 - Xorrons Totenheer
Andere Wagen standen ebenfalls. Menschen liefen zusammen, und in meiner Brust zog sich etwas zusammen. Ich ahnte das Schreckliche, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Deshalb zögerte ich es hinaus. Die Konfrontation war zu schlimm, und meine Schritte glichen dem Schleichen einer Schnecke.
Dennoch kam ich näher.
Kalt rann es über meinen Rücken. Mein Mund hatte sich verzerrt. Der Blickwinkel war geschmälert worden, schien aus einem Tunnel zu bestehen, und der Blick war wirklich nur auf den Ausgang gerichtet, wo sich das Zielobjekt befand.
Da lag jemand.
Die Räder des Lkw standen schräg. Sie verdeckten die Gestalt, so daß ich vorläufig nur eine Hand sehen konnte.
Klein und schmal…
Ich ging weiter.
Jeder Schritt wurde zur Qual. Die Stimmen der Zeugen umgaben mich wie ein durch Filter gedämpfter Sturmwind, der zu einem Säuseln geworden war.
Die nächsten Schritte brachten mich so dicht an das Ziel, daß ich es genau erkennen konnte.
Unter der Stoßstange lag eine Gestalt.
Eine Frau.
Shao!
***
Es hatte sie voll erwischt!
Und mich ebenfalls, denn ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Die biochemischen Reaktionen in meinem Körper veränderten sich, sie liefen langsamer ab, waren zurückgedrängt, und in meinem Kopf breitete sich eine Blutleere aus.
War Shao tot?
Irgendwie mußten die Neugierigen gespürt haben, was in mir vorging.
Wahrscheinlich zeichneten sich diese Vorgänge auf meinem Gesicht ab denn die Männer und Frauen schufen Platz, damit ich durchgehen und Shao erreichen konnte.
Das Lamentieren des Fahrers hörte ich kaum. Es drang an meine Ohren wie aus weiter Ferne.
Neben Shao blieb ich stehen. So dicht, daß meine Fußspitzen ihren Körper berührten.
Er sah steif aus, wie der einer Leiche!
Ich kniete mich nieder. Es war eine abgezirkelte Bewegung, nicht einmal vom Gehirn gesteuert, ich mußte einfach diesen Gesetzen folgen und mir Shao anschauen.
Es gab kein Blut, ich sah keine Verletzung. Sie lag vor mir wie ein schöne, große Puppe. Nur der Ausdruck in den Augen, der bereitete mir Angst.
Da stimmte etwas nicht. Die Augen waren so verdreht, wie ich sie nur von Toten her kannte.
Ich kroch um Shao herum, bis ich ihren Kopf erreicht hatte, meine Hände unter ihn und das schwarze, ausgebreitete Haar schob und den Kopf in die Höhe drückte.
Ihr Gesicht kam dem meinen näher.
»Shao!« Ich flüsterte ihren Namen, obwohl ich wußte, daß ich keine Antwort bekommen würde.
Sie schwieg.
Tote können nicht mehr reden! Dieser makabre Ausdruck fuhr mir durch den Kopf, als ich vor der Leiche saß, denn für mich gab es keine andere Möglichkeit mehr.
Shao war tot!
Über- oder angefahren worden. Kein Dämon schien mitgeholfen zu haben, es war alles normal gelaufen, ein Unglücksfall.
Auch ich hätte in diesen Augenblicken schreien können, aber ich brachte es nicht fertig. So blieb ich hocken, versunken in einer anderen Welt, und ich lauschte in meine Umgebung hinein.
Den Fahrer hörte ich. »Ich konnte es nicht mehr verhindern!« schrie er. »Sie war plötzlich da, und das Lenkrad in meiner Hand bekam ich nicht mehr herum. Es hakte oder was weiß ich. Glaubt ihr mir nicht, verdammt?«
Ich stand auf. Irgendwie war es falsch von mir, so etwas zu tun, aber ich konnte nicht anders, denn die Worte des Mannes hatte ich genau verstanden, trotz der schrecklichen Lage, in der ich mich befand. Er hatte von einer Kontrolle gesprochen, die ein anderer über das Lenkrad gehabt hatte.
Konnte man den Unfall doch nicht auf eine natürliche Folge zurückführen?
Mein Mißtrauen war da und ließ sich auch nicht mehr abschütteln.
Deshalb schritt ich direkt auf den lamentierenden Fahrer zu, der mich sah und Angst bekam.
Er war ein breitschultriger Bursche, trug ein kariertes Hemd und eine Mütze mit dunklem Plastikschirm auf dem Kopf. Er wankte zurück, streckte die Arme vor und hielt mir seine zehn klobigen Finger entgegen.
»Ich konnte nichts dafür, verdammt! Wirklich nicht. So glauben Sie mir doch, zum Teufel!«
»Sicher.« Ich versuchte zu lächeln und nickte gleichzeitig. »Sie konnten nichts dafür.«
Das linke große Vorderrad hatte ihn aufgehalten. Er preßte seinen Rücken dagegen, die Haut auf seinen Wangen zuckte, auf der Stirn sah ich den Schweiß.
Dann schaute er auf meinen Ausweis, den ich hervorgeholt hatte. Ich wußte nicht, ob er in seiner jetzigen Verfassung überhaupt lesen konnte, was dort geschrieben stand, deshalb sagte ich es ihm.
»Scotland Yard. Mein Name
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