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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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ihn. Dann kamen langsam einzelne Stimmen durch. Eine ältere Arbeiterin sagte: »Soll sie doch machen, wenn sie nichts zu tun hat; wir haben so genug!« – Irgendwo sagte jemand: »Großgusche!« – Der Herr Zebaoth sagte: »Hast du ja was eingebrockt, hast du da. Willst du Sieb einziehen vielleicht, acht Zentner, oder Rolle heben oder was?« Gewerkschafts-Traugott stand am Rednerpult und hob beschwichtigend die Hände. Aber erst als auch Jungandres aufstand, wurde es langsam ruhiger.
    |681| Jungandres sagte: »Jeder kann sagen, was er denkt. Dafür ist die Versammlung da.« Es war nicht ganz klar, ob er Ruth meinte oder ob es eine Aufforderung an die anderen war. Es meldeten sich auch einige. Es fand sich aber keiner, der etwas für den Vorschlag zu sagen hatte. Ruth saß da, sie versuchte mit aller Anstrengung, herauszufinden, was denn gesprochen wurde, aber sie kam nicht dahinter. Sie vergaß auch ganz von einem Redner auf den anderen, wer der vorige gewesen war; es verwirrte sich ihr alles. So entging ihr, daß auch der Neue sprach, mit der verkrüppelten Hand der. Und daß er sagte, wenigstens müsse man in Ruhe überlegen, ob nicht doch etwas dran sei an dem Vorschlag der Kollegin. Und daß auch die Regierung gesagt habe, man müsse endlich Ernst machen mit der vollen Gleichberechtigung; sicher gäbe es da bald ein Gesetz. Sie verstand nicht mehr, was vorging, auch nicht, daß einige erstaunt den Kopf hoben. Da niemand recht wußte, wer das war, nahm es keiner weiter ernst. – Ruth dachte immer nur: Ich habe es nicht richtig gemacht, nicht so, daß sie es verstehen; ich habe alles falsch gemacht …
    Willi Traugott ließ dann über die Sonntagschicht abstimmen, er bekam die Mehrheit wie immer – bei einigen Stimmenthaltungen und einer Gegenstimme. Das war die von Sigi Hahner; der hatte keine Familie zu ernähren und hatte gern mal einen freien Sonntag; mit dem Geld kam er so und so nicht aus.
    Nach der Versammlung, als sie die Treppe hinuntergingen, wurde Ruth noch von einigen angesprochen, hämisch oder wenigstens foppend; ein paar Frauen wollten sich nicht beruhigen, weil sie ihnen in den Rücken gefallen wäre; eine lachte böse. Sie nahm das gar nicht wahr. In ihr war alles auf der Flucht. Sie ging die Treppe hinab inmitten der anderen, die sie fast alle kannte, aber sie fand kein bekanntes Gesicht.
    Auf dem Hof stand Jungandres, der wartete, bis sie herankam. Er ging ein Stück neben ihr und sagte: »Mach dir |682| nichts draus!« Sie nickte. »Wir können ja noch mal drüber reden«, sagte er dann.
    Sie nickte wieder.
    Aber sie verstand ihn nicht. Sie ging über den Hof und zum Fabriktor hinaus, sie ging zur Bushaltestelle und erreichte gerade noch den Linienbus, sie fuhr zum Wolfswinkel. Als der Bus im Wald war, sah sie das erstemal hinaus. Da war die Ruine vom alten Saigerhaus. In der Giebelwand hatte den ganzen Sommer ein Turmfalkenpärchen genistet, mit drei Jungen, die waren jetzt auch fort. Und weiter drüben, hinterm Wald, wo die Breitenfelder Äcker begannen und das Brachland, war immer alles voller Möwen. Niemand wußte, wo sie hergekommen waren. Die Möwe ist ein Wasservogel. Es war aber kein Wasser in der Nähe. Die Möwen waren seit drei Jahren da, und sie waren richtige Landvögel geworden, niemand wußte warum …
    An der Siedlung stieg sie aus. Sie nahm das Einkaufsnetz aus der Tasche und ging zum Spätladen hinüber, sie stellte sich in die Schlange. Bißchen Wurst würde es vielleicht noch geben, Fleisch wohl nicht mehr. Es wurde schon dunkel. Das bißchen Tag war schon vorbei.
    Aus dem III. Kapitel

2 [Christian Kleinschmidt]
    Nach vier Wochen Arbeit unter Tage begann Christian Kleinschmidt sich langsam zu gewöhnen an die Enge der Querschläge und des Überhauens, an die Dunkelheit, an die Strapaze. Die ersten Tage war er nach der Schicht auf den Strohsack gefallen, ausgelaugt, oft ohne sich gewaschen und umgezogen zu haben. Er war abgemagert, das Essen schmeckte nicht, mitunter war er über der Suppe eingeschlafen. Er hatte aber kaum Hunger verspürt, nur immer dieses klebrige Durstgefühl.
    |683| Sträflinge ritzen Kalenderstriche in die Zellenwand, für jeden abgebüßten Tag einen. Christian Kleinschmidt schnitt Kerben in die Randleiste seines Nachtschemels, eine für jeden Arbeitstag. Vier Wochen lang. Dann ließ er eine aus, nach einer Schicht, die so hingegangen war. Er besah sich die Kerben, zu fünfen gebündelt, er dachte: Ich bin doch kein Zwangsarbeiter. Oder ist es ein

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