Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Erster Teil
Die junge Witwe
S turz in den A bgrund
1
Im trüben Morgengrauen beugte sich Louise Paquin über ihren schlafenden Gatten und flüsterte: »Ich kann dich nicht länger
ertragen, Raoul. Entweder du stirbst oder ich sterbe.«
Ihre kleine, zierliche Gestalt krümmte sich wie vor Schmerzen zusammen. Sie angelte nach ihrer wollenen Bettjacke und schlüpfte
hinein. Das Schlafzimmer mit seinem düsteren, überladenen Prunk war eisig kalt, denn der Winter dauerte schon zwei Monate,
und wie überall in den Hamburger Bürgerhäusern wurden nur die wenigen Räume beheizt, in denen man sich tagsüber aufhielt.
Dennoch war es nicht nur die Kälte, die Louise von Kopf bis Fuß erschauern ließ. Ihr graute vor dem Tag, der vor ihr lag.
Sie fragte sich, wie viele solcher Tage sie noch würde aushalten können, mit den unauflöslichen Ketten der Ehe gebunden an
einen Mann, den sie nie geliebt hatte und nun gleichzeitig bemitleidete und verabscheute.
Keinen einzigen Tag, entschied sie. Wenn sie nicht handelte, würde sie diejenige sein, die zugrunde ging. Längst hatte sie
alle Vorbereitungen getroffen, hatte den tödlichen Trank gemischt, das Fläschchen bereitgestellt. Nur zum letzten Schritt
fehlte ihr noch der Mut.
»Mein Gott, Raoul«, wisperte sie, »was ist aus dir geworden? Ich kann dich nicht mehr ertragen. Ich sterbe, wenn ich noch
lange so weiterleben muss.«
Es waren keine leeren Worte. Die tägliche Angst und Anspannung zermürbten sie. Sie war ständig an Körper und Seele krank,
litt an Magenkrämpfen, Zittern und nächtlichen Schweißausbrüchen. Erst hatte sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie so gottlos
war, auf seinen baldigen Tod zu hoffen. Jetzt wusste sie, dass in einem verzweifelten Herzen noch viel schlimmere Gedanken
aufsteigen können.
Immerzu hatte sie an die vielen gefährlichen Substanzen denken müssen, die unten in der Apotheke im Giftschrank standen. Sie
war überzeugt gewesen, dass sie etwas so Schreckliches niemals tun konnte, aber die Gedanken waren um sie herumgekrochen wie
lauernde graue Schlangen, und schließlich hatte eine dieser Schlangen sie mitten ins Herz gebissen.
Was da liegt, ist nicht mehr Raoul, sagte sie sich. Das ist nicht mein Mann. Das ist ein böses Unwesen, und es ist kein Mord,
wenn ich es töte.
Ihr Blick saugte sich fest an den verhassten Zügen. Der Apotheker Raoul Paquin war in gesunden Tagen ein wohlgenährter, rosiger
Mann gewesen, aber jetzt war er abgemagert bis auf die Knochen. Die Gesichtshaut war schuppig trocken und fahl, das Gesicht
mager und so eingefallen, dass die Barthaare wie Schweineborsten aus der Haut ragten. Bei jedem pfeifenden Atemzug drang ein
übler Geruch aus seinem weit offen stehenden Mund.
Louise klammerte die Hände ineinander, um den Schüttelfrost zu unterdrücken, der ihren Körper ergriff. Wie war es möglich,
dass ein Mensch sich so erschreckend veränderte? Früher hatte sie ihren Mann gern gehabt, obwohl er vom Alterher ihr Vater hätte sein können, aber jetzt wich sie vor ihm zurück wie vor einer giftigen Kröte. Es war ja nicht nur sein
Aussehen, das sie erschreckte. Wäre nur sein Körper verfallen und sein Wesen dasselbe geblieben, so hätte sie den Kranken
bereitwillig gepflegt. Aber der einst so gutmütige Mann war im letzten halben Jahr bösartig geworden, zänkisch und gemein,
voll Hass und Misstrauen gegen alle Welt. Der ganze Haushalt litt unter seiner Bosheit, und am meisten seine erst achtzehnjährige
Frau.
Er regte sich unter der Bettdecke. »Louise!«, krächzte er. »Ich habe Durst.« Seit einiger Zeit hatte er andauernd Durst. Es
war ihm zur Gewohnheit geworden, sie mehrmals in der Nacht zu wecken und ein erfrischendes Getränk von ihr zu verlangen.
»Ich hole deinen Trank.« Sie lief auf bloßen Füßen aus dem Zimmer, doch nicht hinunter in die Küche, wie der alte Mann meinte,
um Eiswürfel zu holen, sondern in die Apotheke.
Sie trat ein, ohne Licht zu machen, und fand sich augenblicklich umfangen von dem Schleier süßer und beißender Gerüche, die
aus den Fayence-Gefäßen auf den Regalen hervordrangen, sooft eines davon geöffnet wurde, und ständig im Raum schwebten. Es
roch nach Anis, Minze, Myrrhe, Rizinus, Terpentin, Weihrauch, Hustensirup und Lakritze, Seifen und Salben. Matter Schein fiel
von den Lampen des Jungfernstiegs in die Offizin, von der zwei gewölbte Seitenschiffe abgingen. Das rechte führte zum Kontor,
das linke zum
Weitere Kostenlose Bücher