Rummelplatz
verschwimmen. Lieber Gott, gib auf ihn acht. Lieber Gott, laß ihm nichts geschehen.
|75| IV. Kapitel
1.
RUMMELPLATZ. Leierkastenmusik, plärrende Blechlautsprecher. Der Platz hinter der Bermsthaler Kirche flackert, er lärmt, er bäumt sich. Die Leichen sind ausquartiert, die Gräber evakuiert, vor zwei Jahren schon, als hier ein Schacht getäuft werden sollte. Es wurde aber nichts aus dem Schacht, niemand weiß, warum. Schlacke wurde aufgeschüttet, glattgewalzt, ein Platz für Kundgebungen und Volksbelustigungen. Diesmal heißt der Rummel Weihnachtsmarkt.
Hinter dem Platz lauert die Dunkelheit. Zwei Farben nur hat die Landschaft, weiß und grau, das Dorf ist schmutzig am Tag und schon finster am Nachmittag, abends ist es ein böses, geschundenes, heimtückisches Tier, zu Tode erschöpft und gierig. Es ist ein Tier auf der Lauer, ein Tier in der Agonie, es hat sich verborgen in der Dunkelheit, es schweigt. Der Platz aber ist hell, er täuscht Wärme vor und Lebendigkeit. Ein Triumphbogen eröffnet ihn, aufgestockt auf den Resten der Friedhofsmauer, aus groben Latten genagelt und schreiend bemalt. Links ein kerzentragender Bergknappe in der Paradeuniform des versunkenen Silberbergbaus, mit schwarzglänzendem Arschleder und hölzernem Gesicht, fröhliche Weihnacht. Rechts ein Wismutkumpel, markig, erzig, ich bin Bergmann, wer ist mehr!
Der Platz aber ist hell, und die Menschen hier hungern nach Helligkeit stärker und verzweifelter als anderswo. Im Gebirge sind sie fremd, unter Tage sind sie allein, allein mit sich und dem Berg, allein mit ihren Hoffnungen, ihren Zweifeln, ihrer Gleichgültigkeit, allein mit der Dunkelheit und der Gefahr. Die Dunkelheit ist um sie und in ihnen, und ist auch |76| kein bestirnter Himmel über ihnen, da ist nur der Berg mit seiner tödlichen Last und seiner Stille. Als Glücksritter sind sie aufgebrochen, als Gestrandete, Gezeichnete, Verzweifelte, als Hungrige. Sie sind über das Gebirge hergefallen wie die Heuschrecken. Jetzt zermürbt sie das Gebirge mit seinen langen Wintern, seiner Eintönigkeit, seiner Nacktheit und Härte. Wenn nichts sie mehr erschüttern kann, nach allem, was hinter ihnen liegt, das Licht erschüttert sie. Wenn sie nichts mehr ernst nehmen, das »Glück auf« nehmen sie ernst.
Uralte Verlockung der Jahrmärkte. Locker sitzen die Fäuste in den Taschen, die Messer, die zerknüllten Hundertmarkscheine, der Rubel rollt. Zehntausende kamen gezogen, und in ihrem Gefolge kommen die Rollwagen und die Spielbuden, kommt das Schaubudenvolk, kommen die Gaukler und die Gauner, die Narren und die Nutten. Und auch jene, die schon Fuß gefaßt haben oben an den Prozenttafeln, jene, die schon Hoffnung in die Täler tragen und ein Fünkchen Gewißheit, auch sie können sich der Lockung nicht ganz entziehen. Sie mischen sich unter die anderen, die vielen, ein Strähnchen zu erhaschen vom Glück, bestaunen gläubig den Talmiglanz, wissen noch, daß dies nur Ersatz ist für anderes, oder haben es noch vergessen. Allabendlich wälzen sich Menschenströme in die Schaubudengassen, stauen sich an den Karussells, am Bierzelt, an der Preisboxerbude. Allabendlich stehen sie vor den Lautsprechern des Riesenrades und der Berg-und-Tal-Bahn, stampfen den Schlagertakt, wippen in den Kniekehlen, grölen in die Nacht. Schnapsflaschen kreisen, Mädchen kreischen auf, zeigen auf der Luftschaukel ihre Schenkel, die Röcke hochgeschlagen vom Fahrtwind. Es gibt Papierblumen zu gewinnen an Wurf- und Ratzbuden; in den Losbuden Gipsfiguren, nackte Porzellanmädchen, Aschenbecher und Blumenvasen. Bockwürste werden verkauft, Heißgetränke, Grog und Bier und Wodka. Die Wismut ist ein Staat im Staate, und der Wodka ist ihr Nationalgetränk. Hinter den Buden blüht der Schwarzhandel, geliebt wird auf umgestürzten |77| Grabsteinen, auf vergessenen Bänken, an einen Baum gelehnt. Hin und wieder bricht eine Schlägerei aus, dann strömen sie herbei von allen Seiten, bilden einen Ring, feuern die Kämpfer an oder schlagen selber zu. Polizisten lassen sich nach Einbruch der Dunkelheit nur selten sehen. Und wenn schon, dann allenfalls weitab vom Schuß.
2.
In der Frühschichtwoche trafen sie sich fast jeden Abend auf dem Rummelplatz: Peter Loose, Christian Kleinschmidt, der Fördermann Spieß und ein paar andere aus ihrer Baracke. Sie standen am Riesenrad, an der Boxerbude, saßen im Bierzelt. Niemals wurde ein Treffpunkt verabredet, man wußte, wo man einander finden konnte, man fand sich.
An diesem
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