Rummelplatz
Fast immer waren es die anderen, die ihn auf den Weg brachten, und er dachte manchmal, daß doch irgendwas sein müsse an ihm, das sie dazu bewog – oder daß er vielleicht gar nicht der sei, für den sie ihn hielten. Oft fürchtete er, daß er etwas falsch machen könnte, und daß sie sagen würden: Er ist doch nicht der Richtige. Er tat aber weiter alles so, wie sie ihm rieten, und er erfuhr jedesmal ein bißchen mehr von ihnen, von der Welt, wie sie sie sahen, und von sich selber auch.
Die Reihen strafften sich. Trommelschläge dröhnten. Wann wir schreiten Seit an Seit. Viele marschierten jetzt im Gleichschritt.
Nickel sang mit, er mußte singen, was alle sangen. Das Stalinporträt schwankte nach links und gab den Blick zur Tribüne frei; Nickel sah den Präsidenten. Hochrufe kamen herübergeweht. Fanfarenstöße hallten. Tausende drängten nach, aber vorn ging es nicht weiter. Die Menge dröhnte, die Menschen schienen mit aller Kraft bemüht, eine unsichtbar über ihnen liegende Last hochzuheben. Alles Einzelne schwieg. Alle Stimmen hoben sich auf. Nickel stand eingekeilt, die Gesichter verschwammen. Der Lärm brodelte über den Köpfen und schwoll an, ebbte ab, hallte wider; Fahnen wurden geschwenkt, Lautsprecher krächzten. Nickel hatte keine Vorstellung mehr vom Ausmaß dieser Demonstration. Er sah weder Anfang noch Ende. Er sah Menschen, wohin er auch |68| sah: auf Mauersimsen und Laternenmasten, an Eisenzäune gepreßt, die Absperrung hatte nicht standgehalten. Er dachte plötzlich: Das ist der Rote Platz. Da standen die Führer auf breiter Empore über dem Mausoleum vor riesigem Areal, auch die ausländischen Kommunisten, auch die deutschen; aber nun standen sie hier, und dies Land demonstrierte, das hatte es zwölf Jahre nicht, nur Paraden und Aufmärsche, und die Kunst der Paraden war die einzige Kunst gewesen; oder die Kriegskunst. Halbwüchsige kletterten in den Ruinen, einer rutschte ab, schien herabzustürzen auf das Pflaster und riß Schutt mit, da schrie die Menge auf; aber er hatte schon Halt gefunden an einem Eisenträger, zog sich hinauf, kümmerte sich nicht um die, die die Fäuste schüttelten gegen ihn. Tausend Jahre eiserne Ordnung, Heroismus, Hygiene, Wagner-Opern, gepflegte Infanteriewaffen. Nun gingen sie wieder. Keiner befahl. Drängten sich, stießen einander, kamen irgendwie voran. Tausend Jahre und eine Nacht. Und plötzlich wurde die Menge von einer irgendwo entstandenen Kraft gesprengt, ein Keil stieß vor, fing den Druck, brach eine Bresche. Nickel wurde mitgerissen, Ausweichenwollen, Weitermüssen, der Strom teilte und schloß sich, ließ Inseln aus, riß sie dann doch mit – er floß breiter dahin und nun langsamer, er gab Ausblicke frei und Umschau, zog mählich fort, stand manchmal still, versickerte sanglos-klanglos, sickerte maßlos, sickerte namenlos-endlos, versickerte spurlos in Seitenstraßen.
Er war nun draußen. Er stand allein auf breitem Gehstreifen in der Straßenmitte. Links marschierte geordnet eine Kolonne vorbei. Rechts kam ein einzelner mit eingerollter Fahne. Eingerollte Fahne mit einem einzelnen. Er fröstelte wieder. Er sah auf die Uhr: Es blieben zwei Stunden.
Er ging langsam durch die Nebenstraßen. Er ging zum S-Bahnhof. Immer noch gingen viele in den Straßen, in dieser Richtung, in Grüppchen und einzeln. Die Abendschatten krochen aus den Ruinen, es wurde sehr schnell dunkel.
|69| Es gab kaum Wohnhäuser in dieser Gegend, überhaupt kaum Häuser, keine Straße war beleuchtet. Manchmal finstere Fassaden. Manchmal Geräusche. Vor einer Toreinfahrt patrouillierte ein sowjetischer Soldat, sprach leise mit einem zweiten, der am halbgeöffneten Torflügel lehnte, rauchend. Ihn bat Nickel um Feuer. Er hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. »Kalt«, sagte er, »cholodnij.« – »Da«, sagte der Soldat. Und dann sagte er: »Paschalissta, weitergehn.«
Nickel ging weiter. Da war noch ein Nachklang. Da war schon das andere. Aber sie hatten dort alle beieinander gestanden, unübersehbar, und gingen nun irgendwohin: wenn das durcheinanderkäme, wenn jedes plötzlich einen anderen Platz einnehmen wollte, wenn jeder den seinen vergessen würde oder abgeschnitten würde von ihm … Ein Gesetz, das nirgends fixiert war. Etwas Festes auch dies. Jeder kam an, wo er immer ankam. Jeder tat, was zu tun war. Keiner, der es überschaute. Dennoch funktionierte es. Nickel stellte sich vor: Wenn aber doch einer insgeheim lenkt? Er stellte sich vor: Wenn aber
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