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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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doch einer Macht hätte über das alles? Er war dieser eine. Er hatte den Mechanismus geschaut, er wußte, wo einzugreifen war, er allein war vorbereitet. Er sah Wege sich kreuzen, Linien emporsteigen und andere fallen, sah diese Millionen Pünktchen und ihr Zögern und ihren Gang: Er allein konnte den Augenblick bestimmen und die Richtung. Er dachte: Ich würde alles tun, daß es gut würde für alle. Irgendwie würden sie es dann erfahren und sagen: Wir haben uns nicht getäuscht. Er hatte das immer gewollt. Und nur die Gelegenheit, die blieb immer aus.
    Wenn einer diese Straßen entlanggeht, an geborstenen Mauern vorbei und verschütteten Gräbern, vielleicht ist es dies: Konturen, die nicht halten wollen – ist es die Zeit, die mit uns umgeht, gehn wir mit der Zeit um? Sprüche standen auf Fahnen und Koppelschlössern, tropften aus Lautsprechern, aus den Mündern der Lehrer. Einer, der aus Bad Kreuznach kam, hatte gesagt: Wir haben noch mal Glück gehabt, |70| wir sind noch mal davongekommen. Oder muß jeder zahlen, so oder so? Er sah die Silhouette der Stadt gegen den farblosen Himmel, gegen die fraglose Dunkelheit – vielleicht war das alles? Diese geordnete Unordnung, sonst nichts?
    Dann hörte er die Leierkastenmusik. Mitten in den Trümmern ein paar Buden, zwei, drei Karussells, das Licht spärlich, Farben keine. Ein Vorstadt-Tingeltangel mitten in der Stadt. Er kam an einem Kettenkarussell vorbei, da oben flogen sie, Mädchen mit wehenden Röcken, Burschen, die die Mädchen immer wieder zu sich heranzogen und Schwung gaben und abstießen, sie schwangen hoch hinaus. Aber es war von dort nichts anderes zu sehen als von hier. Ein paar Lichter, in die Trümmer getupft. Zu viele Menschen für den winzigen Platz. Es war ein Rechteck, halb so groß wie der Platz am Schiffbauerdamm, nur daß kein Wasser da war, und keine Brücke. Er war schon vorbei. Das Orchestrion war noch eine Weile zu hören. Da dachte er plötzlich: Als in Warschau das Ghetto brannte, haben sie an der Ghettomauer einen Rummelplatz aufgemacht. Er hatte das in einem Film gesehen. Deutsche Soldaten, die an Schießbuden standen und mit polnischen Mädchen schäkerten, die Karussell fuhren und Bier tranken, während von jenseits der Mauer der Rauch herüberzog und die Stille, und Schüsse manchmal auch …
    Er ging durch seine Stadt. Es war vielleicht das letzte Mal für lange Zeit. Morgen würde er im Gebirge sein, in dieser Papierfabrik, er hatte den Lehrgang mit Gut absolviert, obschon er auch daran erst nicht hatte glauben wollen – gab’s denn da keine freundlicheren Bilder?
    Und war denn alles schon so lange her? Daß er das Einmaleins gelernt hatte und die Biographie Horst Wessels? Hinter einem blassen Vorhang Vergangenheit spielte ein schmächtiger Knirps Fußball, das Fenster im Lager des Seifen-Grossisten klirrte in Scherben. Er stand auf dem Zehn-Meter-Turm des Wiking-Bades, unten das winzige Rechteck Bassin, am Beckenrand die Meute seines Jungzuges, aber die Schreie |71| drangen nicht herauf zu ihm, der stand, stand, nicht zu springen wagte. Er lag bei der Mutprobe für das Fahrtenmesser bäuchlings über der Dolchspitze, der Dolch war mit dem Griff in die Erde gerammt, Liegestütz, auf und nieder, zehn und zwanzig und weiter, bis die Ellenbogen sich nicht mehr beugen wollten, bis der Schweiß ausbrach und das Herz sich verkrampfte. Er hatte noch einmal Glück gehabt. Morgen war er wer. Ein Personalleiter, wie stolz das klingt. Und war doch immer er selber. Und hatte nur immer neu zu entscheiden. Als ob man die Dinge hätte, wenn man die Namen hat.
    Er ging durch seine Stadt, und er dachte: Es ist ja doch nichts Endgültiges, natürlich komme ich wieder, ich kann ja auch ganz zurück. Ja, dachte er, es hängt doch von mir ab. Entscheidungen, dachte er, das ist doch nichts für die Ewigkeit.

    Er traf die Mutter an der Gepäckausgabe, wie sie es vereinbart hatten. Sie stand schmal und gebückt vor einem Kinoplakat, sie kam ihm entgegen. Er sah die gekalkte Fläche hinter ihr und die Reklame: DIE MÖRDER SIND UNTER UNS! Er sah, wie mager sie war und wie verhärmt. Mein Gott, sie war doch erst fünfundvierzig.
    Dann standen sie an irgendeinem Schalterfenster und schlürften Heißgetränk. Die Mutter sah ihm zu. Sie war nun wieder allein. Sie war allein gewesen drei Jahre nach der Geburt des Jungen, als der Mann fortgegangen war, aber eigentlich schon vorher. Sie hatte allen Mut gebraucht. Der Junge hatte nicht werden sollen, wie der

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