Russendisko
Lichtenberg an. Die Aufnahme verlief damals noch sehr demokratisch. Aufgrund der Geburtsurkunde, in der schwarz auf weiß stand, dass unsere beiden Eltern Juden sind, bekamen wir eine Bescheinigung in einer extra dafür eingerichteten Westberliner Geschäftsstelle in Marienfelde. Dort stand, dass wir nun in Deutschland als Bürger jüdischer Herkunft anerkannt waren. Mit dieser Bescheinigung gingen wir dann zum ostdeutschen Polizeipräsidium am Alexanderplatz und wurden als anerkannte Juden mit einem ostdeutschen Ausweis versehen. In Marienfelde und im Polizeipräsidium Berlin Mitte lernten wir viele gleichgesinnte Russen kennen. Die Avantgarde der fünften Emigrationswelle.
Die erste Welle, das war die Weiße Garde während der Revolution und im Bürgerkrieg; die zweite Welle emigrierte zwischen 1941 und 1945; die dritte bestand aus ausgebürgerten Dissidenten ab den Sechzigerjahren; und die vierte Welle begann mit den über Wien ausreisenden Juden in den Siebzigerjahren. Die russischen Juden der fünften Welle zu Beginn der Neunziger Jahre konnte man weder durch ihren Glauben noch durch ihr Aussehen von der restlichen
Bevölkerung unterscheiden. Sie konnten Christen oder Moslems oder gar Atheisten sein, blond, rot oder schwarz, mit Stups- oder Hakennase. Ihr einziges Merkmal bestand darin, dass sie laut ihres Passes Juden hießen. Es reichte, wenn einer in der Familie Jude oder Halb- oder Vierteljude war und es in Marienfelde nachweisen konnte.
Und wie bei jedem Glücksspiel war auch hier viel Betrug dabei. In dem ersten Hundert kamen alle möglichen Leute zusammen: ein Chirurg aus der Ukraine mit seiner Frau und drei Töchtern, ein Bestattungsunternehmer aus Villa, ein alter Professor, der für die russischen Sputniks die MetallAußenhülle zusammengerechnet hatte und das jedem erzählte, ein Opernsänger mit einer komischen Stimme, ein ehemaliger Polizist sowie eine Menge junger Leute, »Studenten« wie wir. Man richtete für uns ein großes Ausländerheim in drei Plattenbauten von Marzahn ein, die früher der Stasi als eine Art Erholungszentrum gedient hatten. Dort durften nun wir uns bis auf weiteres erholen. Die Ersten kriegen immer das Beste. Nachdem sich Deutschland endgültig wiedervereinigt hatte, wurden die neu angekommenen Juden gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt. Zwischen Schwarzwald und Thüringerwald, Rostock und Mannheim. Jedes Bundesland hatte eigene Regeln für die Aufnahme.
Wir bekamen die wildesten Geschichten in unserem gemütlichen Marzahn-Wohnheim zu hören. In Köln, zum Beispiel, wurde der Rabbiner der Synagoge beauftragt, durch eine Prüfung festzustellen, wie jüdisch diese neuen Juden wirklich waren. Ohne ein von ihm unterschriebenes Zeugnis lief gar nichts. Der Rebbe befragte eine Dame, was Juden zu Ostern essen. »Gurken«, sagte die Dame, »Gurken und Osterkuchen.« »Wie kommen Sie denn auf Gurken?«, regte sich der Rebbe auf. »Ach ja, ich weiß jetzt, was Sie meinen«, strahlte die Dame, »wir Juden essen zu Ostern Matze.« »Na gut, wenn man es ganz genau nimmt, essen die Juden das
ganze Jahr über Matze, und auch mal zu Ostern. Aber wissen Sie überhaupt, was Matze ist?«, fragte der Rebbe. »Aber sicher doch«, freute sich die Frau, »das sind doch diese Kekse, die nach altem Rezept aus dem Blut von Kleinkindern gebacken werden.« Der Rebbe fiel in Ohnmacht. Manchmal beschnitten sich irgendwelche Männer sogar eigenhändig, einzig und allein, um solche Fragen zu vermeiden.
Wir, als die Ersten in Berlin, hatten das alles nicht nötig. Nur ein Schwanz aus unserem Heim musste dran glauben, der von Mischa. Die jüdische Gemeinde Berlins hatte unsere Siedlung in Marzahn entdeckt und lud uns jeden Samstag zum Essen ein. Besonders viel Aufmerksamkeit bekamen die jüngeren Emigranten. Von der Außenwelt abgeschnitten und ohne Sprachkenntnisse lebten wir damals ziemlich isoliert. Die Juden aus der Gemeinde waren die Einzigen, die sich für uns interessierten. Mischa, mein neuer Freund Ilia und ich gingen jede Woche hin. Dort, am großen gedeckten Tisch, standen immer ein paar Flaschen Wodka für uns bereit. Es gab nicht viel zu essen, dafür war alles liebevoll hausgemacht. Der Chef der Gemeinde mochte uns. Ab und zu bekamen wir von ihm hundert Mark. Er bestand darauf, dass wir ihn zu Hause besuchten. Ich habe damals das Geld nicht angenommen, weil mir bewusst war, dass es dabei nicht um reine Freundschaft ging, obwohl er und die anderen Mitglieder der Gemeinde mir
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