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Russendisko

Titel: Russendisko Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer,Wladimir
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hortete mein Vater die Lebensmittelvorräte. Aus der Küche machte er einen Beobachtungsposten. Die meisten Möbel zerhackte er nach und nach zu Kleinholz für den Fall einer plötzlichen Energiekrise. Egal was für Nachrichten das Fernsehen brachte, meinem Vater konnten keine Perestroika-Wirren etwas anhaben. Doch auf Dauer wurde ihm die eigene Festung zum Gefängnis. Ermüdet entschied er sich 1993, ebenfalls nach Berlin zu
    ziehen. Zwecks Familienzusammenführung, wie das lange Wort in seinem Reisepass hieß.
    Hier wurde er depressiv, weil er nach dem langen anstrengenden Kampf nichts mehr zu tun hatte - wohl das Schlimmste, was einem mit 68 passieren kann. Die süßen Früchte des entwickelten Kapitalismus einfach zu genießen, war ihm zuwider. Mein Vater sehnte sich nach neuen Aufgaben, nach Verantwortung und Kampf um Leben und Tod.
    Wer sucht, der findet. So kam mein Vater auf die Idee, den Führerschein zu machen. Damit war er erst einmal für die nächsten zwei Jahre beschäftigt. Dreimal wechselte er die Fahrschule. Sein erster Fahrlehrer sprang mitten im Verkehr aus dem Auto, in drei Sprachen fluchend. Sein zweiter Fahrlehrer weigerte sich schriftlich, mit ihm im selben Wagen zu sitzen. »Beim Fahren betrachtet Herr Kaminer unentwegt seine Füße«, schrieb er in einer Erklärung an seinen Fahrschulleiter. Natürlich war das eine Lüge. Es stimmte schon, dass mein Vater während der Fahrt nie auf die Straße schaute, sondern nach unten. Dabei starrte er jedoch nicht auf seine Füße, sondern auf die Pedale, um nicht auf das falsche zu treten.
    Der dritte Fahrlehrer war ein mutiger Kerl. Nachdem beide mehrere Stunden zusammen im Auto verbracht und dem Tod ins Auge gesehen hatten, wurden sie wie Brüder. Dieser Fahrlehrer schaffte es, meinem Vater die Führerschein-Idee endgültig auszureden.
    Dann kam wieder eine lange Phase der Depression, bis er das Berliner Seniorenkabarett in Weißensee Die Knallschoten für sich entdeckte. Dort stieg er ein. In dem neuen Programm »Kein Grund, um stillzuhalten« - eine Satire zu aktuellen Problemen unserer Zeit, »heiter, aber bissig!« - spielt mein Vater nun den Ausländer. Ich verpasse nie eine Vorstellung und bringe ihm stets frische Blumen mit.
    Meine Mutter unterwegs
    Die ersten 60 Jahre ihres Lebens verbrachte meine Mutter in der Sowjetunion. Nicht ein einziges Mal überschritt sie die Grenzen ihrer Heimat, obwohl ihre beste Freundin 1982 einen in Moskau stationierten Deutschen heiratete und mit ihm nach Karl-Marx-Stadt zog, wohin sie dann meine Mutter mehrmals einlud. Der Parteisekretär des Instituts für Maschinenbau, in dem sie arbeitete, musste die für eine solche Reise notwendige Beurteilung schreiben, das tat er aber nie. »Eine Auslandsreise ist eine ehrenvolle und verantwortungsvolle Maßnahme«, sagte er jedes Mal zu meiner Mutter. »Sie haben sich jedoch auf dem Feld der gesellschaftlich-politischen Arbeit nicht bemerkbar gemacht, Frau Kaminer. Daraus schließe ich, dass Sie für eine solche Reise noch nicht reif sind.«
    Reif für die Reise wurde meine Mutter erst mit der Auflösung der Sowjetunion, als sie 1991 nach Deutschland emigrierte. Schnell entdeckte sie eine der größten Freiheiten der Demokratie, die Bewegungsfreiheit. Sie konnte nun überall hin. Aber wie weit will man eigentlich fahren, und wie groß darf die Welt sein? Diese Fragen beantworteten sich quasi automatisch, als meine Mutter sich mit dem Angebot von Roland-Reisen, einem Berliner Billig-Bus-Reiseunternehmen, vertraut machte. Ein Bus fährt bestimmt nicht nach Amerika, Australien oder Indien. Aber er fährt schön lange. Man hat das Gefühl, auf einer weiten Reise zu sein und gleichzeitig bleibt man dem Zuhause irgendwie nahe. Das ist praktisch, preiswert und unterhaltsam. Obwohl die an sich beliebten Roland-Reisen immer öfter mangels Teilnehmern ausfallen, hat meine Mutter inzwischen bereits zwei Dutzend Bustouren mitgemacht und dabei viele Reiseziele erreicht. Von Spanien im Süden bis Dänemark im Norden. In Kopenhagen fotografierte sie die
    Meerjungfrau, die jedoch gerade mal wieder kopflos war. In Wien erzählte die Reiseleiterin meiner Mutter, dass die Wienerwürste dort Frankfurter heißen, ferner, dass man dort anständigen Kaffee nur im Restaurant vor dem Rathaus bekomme und dass Stapo die Abkürzung für Polizei sei. In Paris fand der Busfahrer keinen Parkplatz, und sie mussten den ganzen Tag mit dem Bus rund um den Eiffelturm fahren. Am Wolfgangsee kaufte meine

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