Russische Orchidee
Miss Marple spielte. Damals war sie für ein paar Tage zu ihrem Sohn in diese Villa gefahren. Einen ganzen Abend lang hatte sie sich bemüht, ihrem dreizehnjährigen Enkel Kevin beizubringen, wie man die Tschetschotka tanzt. Ihre kleinen schmalen Füße wirbelten so leicht über das Eichenparkett, als gäbe es für sie keine Schwerkraft und als sei die Zeit stehengeblieben.
Am folgenden Tag flog sie nach Nizza zu ihrem Mann. Eine Woche später geriet sein kleines Sportflugzeug, in dem nur er und Sophie saßen, in einen Vogelschwarm und stürzte über den französischen Alpen ab.
Sonja Baturina war siebzig Jahre alt.
Als der Anwalt nach dem Tod seiner Mutter ihre Papiere durchsah, stieß er auf ein zerfleddertes, halb zerfallenes dickes Heft in einem dunkelblauen Wachstuchumschlag.
Es war noch nicht lange her, 1997, als ihm die Idee gekommen war, ein Buch über seine berühmte Mutter zu schreiben. Zum hundertsten Geburtstag von Sophie Paurier brachte der amerikanische Verlag »Metropolitan« das Buch heraus. Die englische Fassung wurde ein Bestseller, die Rechte für die russische Ausgabe verkaufte der Anwalt an den Verlag »Witjas«.
Beim Bankett, das aus Anlaß der Buchpremiere und des hundertsten Geburtstags von Sophie Paurier gegeben wurde, fragte ein Journalist der »Times«, ob Herr Batturin nichtnach Rußland fahren wolle, um nach der Brosche mit dem berühmten Diamanten zu suchen.
»Selbstverständlich würde ich in einem russischen Dorf, mit einem Spaten in der Hand, ein großartiges Bild abgeben«, sagte der Anwalt lächelnd, »aber für ein derart romantisches Abenteuer bin ich zu alt.«
Übrigens fühlte sich Michael Batturin vorläufig durchaus noch nicht als Greis, auch wenn er jetzt immer öfter an seine Kindheit zurückdachte und sich alte Filme anschaute.
»Wie klopft mir das Herz voller Feuer,
Was vergangen ist, tut mir nicht leid.
Stürmt, ihr Pferde mit silberner Mähne,
Zum Schellenklang in die Ferne so weit«,
fiel er mit tiefer, ein wenig zittriger Stimme in den Gesang seiner jugendlichen Mutter auf dem Bildschirm ein.
Die Glasfront seines Wohnraums ging auf das Ufer des Pazifik hinaus. Dort schaukelten weiße Jachten und schrien die Möwen.
Michael Batturin fühlte sich gesund, jung und glücklich. Seine Frau, die Hollywoodschauspielerin Judy Milton, war fünfunddreißig Jahre alt, sein jüngster Sohn zehn. Insgesamt hatte er vier Kinder, sieben Enkel und zwei kleine Urenkel. Die Kinder konnten Russisch, sprachen es aber mit starkem Akzent. Für die Enkel war es eine Fremdsprache. Auf russisch konnten sie nur drei Worte sagen: »Mooshik, voudka, na sdorouvye.«
Informationen zum Buch
Hat wirklich der Geschäftsmann Sanja den Fernsehmoderator Butejko erschossen? Was aber haben die Erpressung der Nachrichtenmoderatorin Lisa und ein sagenhafter Diamant mit dem Mord zu tun? Ein Roman vom Glanz und Untergang des alten russischen Adels, von den Intrigen in der moderen Medienwelt, von Korruption, Besessenheit, Liebe und Verrat.
"Daschkowa erweist sich als versierte Psychologin."
Berner Zeitung
"Daschkowa beherrscht die Kunst spannenden Erzählens."
Österreichische Presse
Informationen zur Autorin
POLINA DASCHKOWA, geboren 1960, studierte am Gorki-Literaturinstitut in Moskau und arbeitete als Dolmetscherin und Übersetzerin, bevor sie mit einer Gesamtauflage von heute 45 Millionen verkauften Büchern zur beliebtesten russischen Krimiautorin avancierte. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Moskau.
In der Aufbau-Verlagsgruppe sind ihre Romane »Die leichten Schritte des Wahnsinns« (2001), »Russische Orchidee« (2003), »Lenas Flucht« (2004), »Für Nikita« (2004), »Du wirst mich nie verraten« (2005), »Keiner wird weinen« (2006) und »Der falsche Engel« (2007) erschienen.
Im DAV wurden die Hörbücher »Die leichten Schritte des Wahnsinns« und »Club Kalaschnikow« veröffentlicht.
Fußnoten
Kapitel 5
1
Vgl. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, hrsg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp, Verlag Artemis & Winkler (Sammlung Tusculum), Zürich 1994, S.49 und 51.
Kapitel 41
1
Maxim Maximowitsch Issajew ist der richtige Name eines sowjetischen Spions, der unter dem Pseudonym »Stirlitz« in Nazideutschland tätig war und durch die Romane von Julian Semjonow zum sowjetischen Volkshelden wurde.
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