Russische Orchidee
Kapitel 1
Artjom Butejko glotzte stumpf sein bleich-grünes, verschwollenes Gesicht im Spiegel an. Seine Augen waren kalt und trüb, wie die mit einer dünnen Eisschicht bedeckten morgendlichen Moskauer Pfützen.
»Wir werden zu Neujahr wohl mal wieder Schwimmflossen brauchen.« Die Maskenbildnerin Ljuba, ein noch sehr junges Mädchen, schnitt eine säuerliche Grimasse und begann mit schnellen, leichten Bewegungen Make-up auf Artjoms unrasierte Wangen aufzutragen. »Hör mal, Butejko, soll ich dir vielleicht etwas Baldrian in die Augen träufeln?«
»Wozu?« fragte Artjom mit träger Verwunderung.
»Du hast so einen toten Blick, und von Baldrian kriegen die Augen wieder Glanz. Im vorigen Jahrhundert haben sich das die feinen Damen in die Augen getan, wenn sie auf einen Ball oder zum Rendezvous gingen. Und außerdem haben sie Essig getrunken, der romantischen Blässe wegen.«
»Was bist du gebildet«, knurrte Artjom und reckte sich, daß seine Gelenke knackten. »Ich hasse gebildete Frauen.«
Bis zur Sendung waren es noch fünf Minuten. Artjom dachte, es wäre nicht schlecht, mit ebendiesem Satz seinen ironischen Rückblick auf die schmutzigsten Skandalgeschichten der letzten Woche zu beginnen.
»Genug rumgeschmiert.« Er verzog das Gesicht und und stieß Ljubas Hand mit dem rosa Schwämmchen grob beiseite. Er schwitzte stark und fürchtete, daß im heißen Licht der Scheinwerfer die Schminke zerlaufen könnte.
Die Erkennungsmelodie, eine kurze, schmissige Fanfare, war verklungen. Drückende Stille hing im Raum, wie immer vor einer Sendung. Sie dauert nicht länger als einen Augenblick, kommt einem aber vor wie eine Ewigkeit. Dieser Augenblick ist so nervenzerreibend, daß man aufspringen und aus dem Studio rennen möchte, bevor es zu spät ist.
Artjom konzentrierte sich, kniff die Augen fest zusammen und bewegte die Schultern. Vorbei. Jetzt erschien sein Gesicht auf dem Bildschirm. Er war live auf Sendung, Auge in Auge mit Millionen von Fernsehzuschauern.
»Ich hasse gebildete Frauen«, sagte Artjom und blickte düster in die Kamera, »ich kann sie nicht ausstehen. Na schön, meine Damen und Herren, lassen wir das, das ist mein persönliches Problem. Also, was hat sich getan in den quälend langen Tagen der Trennung? Beginnen wir mit der Politik. Herr Pribawkin, der bekannte Demokrat und bedeutende Staatsmann, wurde an einem sehr interessanten Ort gesichtet – in einem elitären Club mit dem bescheidenen Namen ›P‹, in Gesellschaft des noch bekannteren Schlagerstars Katja Krasnaja, genauer gesagt, nicht einfach in ihrer Gesellschaft, sondern in ihren Armen. Katja hatte es sich auf dem Schoß des Politikers bequem gemacht und teilte unserem Reporter eine interessante Neuigkeit mit. Sie hat nämlich vor, in naher Zukunft unter aktiver Mithilfe des Demokraten Pribawkin einem neuen Messias, einem Retter Rußlands, das Leben zu schenken, der uns allen eine lichte und freudvolle Zukunft bescheren wird. Sie sehen also, meine Herrschaften und meine lieben Genossen, wir haben keinen Grund zur Panik. Ich denke, in der nächsten Sendung werde ich die Ehre haben, Ihnen mitteilen zu dürfen, daß die historische Empfängnis stattgefunden hat. Vielleicht glückt es uns sogar, Einzelheiten über diesen bedeutsamen Akt zu erfahren.«
Artjom verschwand vom Bildschirm, und an seiner Stelle tauchte das runde, stupsnäsige Gesicht der Sängerin Katja Krasnaja auf. Ein dreiminütiger Ausschnitt aus ihrem letzten Videoclip wurde gezeigt.
Es handelte sich natürlich um einen gekauften Beitrag. Katjas Produzent hatte gefeilscht, was er nur konnte. Nach der Wirtschaftskrise vom August waren die Preise gefallen, eine Minute Werbung kostete selbst in den beliebtesten Sendungen fünfmal weniger als vorher. Artjom war es gelungen, das Maximum herauszuschlagen: dreihundert Dollar pro Minute. Der gesamte, fünf Minuten dauernde Beitrag brachte ihm also anderthalbtausend. Aber das wußte niemand außer Artjom, und er teilte mit seinen Kollegen auf der Grundlage von hundertfünfzig Dollar pro Minute. Diese Art zu rechnen wirkte beflügelnd auf ihn. Wenn es weiter so gut lief, würde er ziemlich schnell seine unangenehmsten Schulden los sein.
Der Clip war zu Ende und Artjom wieder auf dem Bildschirm.
»Tja, liebe Zuschauer, das war doch wirklich ein erotischer, oder nein, ein ästhetischer Genuß. Na, das muß jeder für sich entscheiden. Unsere entzückende Katja ist jedenfalls wie immer einsame Spitze. Wir können ihr nur
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