Der Entertainer
Man blickt auf die Slums mit ihrer Millionenbevölkerung wie auf eine Zyste, einen Fluch. Denn aus diesen Gettos, wo die Häuser an Abgründen hängen, kommen die Banditen und das Böse allgemein. Kommen der Schmutz, die Ratten und die Drogenkiller… So die brasilianische Soziologin Marilena Chaui. Das alles war grauenhaft, unfaßbar, gehörte in Rio zur Achterbahn des Lebens.
Doch der Schrecken bekam die Spitze aufgesetzt. Er war böser als alles zusammen, er, der Entertainer.
***
Der Tag war wie so oft eine Hölle gewesen, widerlich heiß, zersetzend wie Säure, und am Abend waren die kleinen Bestien gekommen, die verfluchten Insekten.
In wahren Wolken waren sie auf der Suche nach Blut aus den Sümpfen gestiegen, um die Menschen zu überfallen.
Sie hatten gestochen, sie hatten getrunken, und sie waren auch durch Spray nicht aufzuhalten, das eher die Menschen selbst umbrachte als die Insekten.
Es gab keinen Schutz vor ihnen. Nicht in den primitiven Hütten, nicht in den Ecken und Winkeln, nicht in den Löchern oder Gruben, wo sie die Ermordeten hineinwarfen und darauf warteten, daß sie irgendwann abgeholt würden wie Abfall.
Rio war die Hölle!
Die schlimmste Stadt der Erde, mit durchschnittlich fünfundsechzig Morden täglich.
Die Berge der Armut, Träume aus der Schnüf fei tüte, der Glaube an die Geister und die Masken der Angst, das alles bildete ein Potential, in dem viele Schwache auf der Strecke blieben. Selbst der lethargische Mensch, der immer seine Augen verschloß, war vor einer Kugel aus den Gewehren der Todesschützen oder Drogenkiller nicht sicher. In den Armenvierteln starb in jeder Stunde ein Kind, aber wen kümmerte das? Es wurde irgendwo hingelegt, zu all den anderen Toten, die sich ansammelten.
Und weil Rio so ein heißes Pflaster war, bewaffneten sich viele. Auch Pozzo trug eine Waffe bei sich. Kein Gewehr oder einen Revolver, er verließ sich auf seinen alten Baseballschläger, den er einem Ami aus dem Norden gestohlen hatte und wie seinen Augapfel hütete. Auf den Müllkippen hatte er damit geübt und Typen, die ihm zu nahe gekommen waren, in die Flucht geschlagen. Einen hatte er sogar erschlagen. Die schwüle Luft hatte am Tage schwer über der Stadt gelegen. Sie roch nach verbranntem Gummi, nach Fett, nach Kloaken jauche, Urin und Kot. Kein Wind brachte Kühlung, und aus den Sümpfen waren schließlich die Insekten gestiegen.
Pozzo war den Wolken entkommen, und er wollte das tun, was er schon lange nicht mehr getan hatte.
Ein Bad nehmen!
Er hätte sogar zum Strand hinunter gehen können, doch den Weg wollte er sich sparen. Es gab andere Möglichkeiten, um sich etwas Kühle zu holen.
Längst war es dunkel geworden, und ein Teil der Stadt, da, wo die Reichen wohnten, strahlte in einem phantastischen Glanz. Die Kette aus Lichtern umgab in breiten Kurven den Verlauf des Strands. Sie war nah und doch so unendlich weit entfernt. Fast wie der Himmel über Rio, der seine blaue Kitschfarbe angelegt hatte, wobei das Millionenheer der Sterne als kostbares Geschenk funkelte, und den Glanz weit hinaus über das Meer schob, wo er sich schließlich verlor.
Dafür hatte Pozzo keinen Blick. Wer sich wie er durch die Nacht bewegte, der mußte die Augen offenhalten, denn die Gefahren lauerten überall.
Und es wurde nie ruhig.
Aus dem Wirrwarr der fast fünfhundert Favelas, in denen drei Millionen Arme hausten, wehten die Geräusche, als wäre ein gewaltiger Magen dabei, die Schrecken des vergangenen Tages zu verdauen. Hin und wieder krachten Schüsse in den Elendsvierteln. Es klang wie ferne Botschaften, und Pozzo dachte daran, daß es Leute gab, die nicht einmal schrien, wenn sie starben. Wahrscheinlich waren sie sogar froh, sterben zu können.
Jetzt waren die Todeskommandos wieder unterwegs, um ihre Hinrichtungen vorzunehmen. Polizisten der Nacht angeblich, um Rio sauberer zu bekommen. Tatsächlich aber waren es brutale Killer und Mörder, die tagsüber oft genug Polizisten spielten, sich in der Nacht dann in die Grausamen verwandelten.
Es war ihnen egal, wen sie erschossen. Und Kinder starben in dieser verfluchten Stadt ebenfalls oft genug unter den Kugeln der Schützen. Man zählte die Toten in den Vorstädten nicht mehr, und die Reichen in Rio schauten nicht einmal hin. Selbst in den offiziellen Karten waren die Slums nur als weiße Flecke eingezeichnet, denn man wollte von ihnen Abstand nehmen.
Pozzo lief in Richtung Strand. Den Baseballschläger hielt er locker in der rechten Hand.
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