Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Während sie die Speisen auf den Platten anordnete und den Kaffee aufbrühte, ließ sie natürlich keine Gäste ein. Deshalb gab sie jeden Morgen etwa zwanzig Minuten lang die gleiche Erklärung ab: »Die Bar ist offen, aber sie ist geschlossen.« Ähnlich verfuhr sie abends; wenn die Bar um neun Uhr schloß, wurden die Gäste zwanzig Minuten vorher nicht mehr bedient.
    »Zakryt«, schrie sie deshalb, während Paul verärgert an die Tür klopfte. Erst dreizehn Minuten nach sechs erbarmte Varja sich und erlaubte Ludmilla, die Tür zu öffnen.
    Der Amerikaner sprach außerordentlich gut Russisch. Es klang wunderschön. Selbst Varja bemühte sich sehr, seine Aussperrung wieder wettzumachen. Sie servierten ihm eine Tasse Kaffee, Salami und ein Ei. Und Brot. »Sind Sie Russe?«
    »Ja«, lächelte er, »amerikanischer Russe.«
    »Sie sind also zurückgekommen, um sich mal umzusehen?« Sie hatte schon einen oder zwei Emigranten im Hotel getroffen. Sie alle sprachen dieses wunderschöne Russisch. »Es ist nicht mehr viel von Ihrem Rußland übriggeblieben, heißt es«, sprach Ludmilla weiter. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn vielleicht noch länger zurückzuhalten. Er trank den Kaffee, biß in ein Stück Brot. Dann runzelte er die Stirn. Ludmilla lächelte. »Stimmt etwas nicht?«
    Er verzog das Gesicht ein wenig. »Nichts Besonderes, nur das Brot ist ein bißchen altbacken. Haben Sie tatsächlich nichts Besseres hier?«
    Ludmilla sah zu Varja hinüber. Varja hatte, wie gesagt, noch ein zweites merkwürdiges Prinzip. Irgendwann einmal war abends, als die Bar geschlossen wurde, noch viel Brot übriggeblieben. Jeder andere hätte das Brot mitgenommen oder es am nächsten Tag weggeworfen. Aus einem nur Varja selbst bekannten Grund hatte sie darauf bestanden, das alte Brot am folgenden Tag zu servieren, bis es ganz aufgebraucht war, was zufällig genau beim Schließen der Bar der Fall gewesen war. Das am Morgen jenes Tages gelieferte frische Brot lag deshalb noch unberührt in der Küche – und war nun wiederum altbacken. Am folgenden Tag spielte sich die gleiche Szene ab. In kürzester Zeit hatte sich aus einem kuriosen Vorfall ein System mit eigenen Regeln entwickelt. Niemandem war es gestattet, das Brot zu berühren. Die Regierung und die internationale Finanzwelt mochten von Reform und Veränderung reden, doch Varjas eisernes Regime wurde durch derart flüchtige Marotten nicht beeinflußt. Und so wurde in der Bar im fünften Stock konsequent Brot serviert, das einen Tag alt war.
    Paul blieb nur noch zwei Minuten. Dann nickte er Ludmilla zu und eilte davon. Es kam keinem von beiden in den Sinn, daß sie verwandt sein könnten.
    Es wurde eine angenehme Reise. Sergej hatte seine Frau Olga mitgebracht, eine zurückhaltende Person um die Dreißig, die einen weiten Pullover trug, der farblich zu ihrem braunen Haar paßte und zarte Hinweise auf die darunter befindliche Körperfülle gab, was Paul durchaus attraktiv fand. Sie saß hinten im Wagen, die beiden Männer vorn. Sergej war bester Laune.
    Sie fuhren am Roten Platz vorbei, wo Vorbereitungen für die in Kürze stattfindenden Feiern zum Ersten Mai getroffen wurden. »Wissen Sie, daß dieses Jahr alles anders wird?« fragte Sergej. »Kein Militär mehr. Eine traditionelle russische Maifeier zur Begrüßung des Frühlings. Keine Tanks. Musik und Tanz.« Er lachte. Paul hatte alles darüber erfahren, selbst von dem erstaunlichen Projekt, anläßlich dieses Tages Reklameflächen auf den Kremlmauern an westliche Firmen zu vermieten.
    »Stellen Sie sich das mal vor – kein Militär«, wiederholte Sergej, als ob er es selbst nicht glauben könnte.
    »Aber das Militär schaut zu«, warf Olga eigensinnig dazwischen. »Wir sind erst richtig frei, wenn das Militär nicht mehr zuschaut.« Die breite Straße, die aus Moskau herausführte, ging bald in bescheidene zweispurige Landstraßen über. Innerhalb einer Stunde gab es nur noch eine Straße, breit genug, daß zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten. »Wir haben nicht Ihre Schnellstraßen«, meinte Sergej entschuldigend.
    »Sie brauchen sie auch nicht«, antwortete Paul. Tatsächlich herrschte auf dieser Hauptstraße nur geringer Verkehr. Das Wetter war herrlich, der Himmel klar, blaßblau, wolkenlos, und über dem östlichen Horizont lag ein leichter Dunst. Zu beiden Seiten der Straße standen Birken.
    Sergej Romanov hatte ein rundes Gesicht, schütteres, helles Haar. Er war zweimal im Westen gewesen und hoffte, wieder dorthin

Weitere Kostenlose Bücher