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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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mit klugem Gesicht und forschendem Blick zurückzukehren, der sich, freundlich grüßend, verneigte und sagte: »Ich bin der Archimandrit Leonid. Darf ich fragen, warum Sie gerade jetzt hierher kommen?«
    Als Paul ihm den Grund sagte, war der Archimandrit offensichtlich tief bewegt. »Sie sind ein Bobrov? Aus der Familie, die dieses Kloster gegründet hat? Und Sie heißen Paul? Unser Kloster heißt, wie Sie wissen, Peter-und-PaulsKloster.« Einen Moment schloß er die Augen. »So etwas betrachten wir als ein Zeichen«, meinte er leise. »Das ist kein Zufall. Bitte bleiben Sie noch ein wenig!«
    Paul schien, daß es wirklich ein außergewöhnliches Zusammentreffen sei. Er, ein Bobrov, kam an ein eben wieder geöffnetes Kloster, und das nicht an irgendeinem beliebigen Tag; denn am Tag zuvor hatten die eifrig suchenden Mönche endlich das Grab ihres am meisten verehrten Kirchenältesten entdeckt, und an diesem Tag wurden seine Gebeine in der Kapelle erneut geweiht. Es handelte sich um den Ältesten Basilius, der im letzten Jahrhundert viele Jahre hinter den Quellen in der Gesellschaft eines Bären als Einsiedler gelebt hatte.
    Der Ritus dauerte nicht übermäßig lang und wurde einfach gestaltet. Der Sarg mit den sterblichen Überresten des Eremiten wurde in die Nordostecke der Kapelle gebracht. Während der Archimandrit ein Meßgewand trug, waren die übrigen Mönche in einfaches Schwarz gekleidet. Die Leute, die hereindrängten, wirkten ärmlich. Es gab nichts an dieser schlichten orthodoxen Messe, was das Auge hätte erfreuen können.
    Ein Psalm und eine Hymne wurden gesungen. Der Archimandrit predigte in schlichten Worten und mit dem Ausdruck großer Güte. Sie alle sollten dankbar sein für die Zeichen göttlicher Vorsehung, hieß es da, für Zeichen, die ihrer Natur nach unvorhersehbar seien. »Sie erinnern uns daran«, so führte er aus, »daß Gottes Weisheit groß ist und daß wir, selbst wenn wir eine Ahnung davon haben, nicht mehr davon kennen als einen unendlich kleinen Teil des göttlichen Planes. Wie sonst kann es sein«, meinte er, »daß zu dieser Stunde, an diesem Tag ein gewisser Paul, Nachkomme des Gründers dieses Klosters, zufällig an der Pforte erscheint, nachdem er Tausende von Kilometern gereist ist? Und ist es nicht bezeichnend«, fuhr der Archimandrit fort, »daß er auf der Suche nach seinem irdischen Haus, das nicht mehr steht, ohne es zu ahnen, zu seinem geistigen Haus gelangt ist?«
    Paul sollte sich aber vor allem an das erinnern, was Leonid über Basilius selbst sagte.
    »Viele Jahre lang lebte Basilius in seiner Einsiedelei, betete und gab geistige Anleitung; es werden ihm auch einige Wunder zugeschrieben. Doch heute, da wir seine gesegneten sterblichen Überreste vor uns haben, möchte ich auf den Beginn seines Einsiedlerdaseins zu sprechen kommen. Es wurde immer gesagt, Basilius habe eine besondere Hand für Tiere gehabt. Es ist überliefert, daß oft ein großer Bär bei ihm gewesen sei und der Älteste zu ihm gesprochen habe wie ein gütiger Vater zu seinem Kind. Doch diese Version ist nicht die ganze Wahrheit. Am Anfang seiner Zurückgezogenheit fürchtete Basilius sich sehr, als der Bär das erstemal kam, und zwar derart, daß er die ganze Nacht wach in seiner Klause kauerte. In der folgenden Nacht kam der Bär wieder, und Basilius hatte wieder große Angst. Erst in der dritten Nacht verstand der Älteste, was er zu tun hatte. Er blieb ruhig vor seiner Hütte sitzen. Dann betete er: ›Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich deines Sünders.‹ Er bat nicht um leiblichen Schutz. Was konnte ihm dieser Bär denn auch antun, ihm, der durch Gottes Gnade das ewige Leben hatte? So verlor er die Furcht vor dem Bären. Auch wir, meine Kinder, sind nicht ohne Furcht. Wir wissen, was in vergangenen Jahrzehnten im russischen Reich geschehen ist. Doch wenn wir nun dieses Kloster wiederaufbauen und an Basilius denken, wissen wir, daß wir den Bären nicht zu fürchten brauchen. Wir müssen ihn lieben. Und vollkommene Liebe läßt keine Furcht zu.« In diesem Augenblick sah Paul zu seiner Überraschung, daß sein Freund Sergej zitterte. Und ihm selbst liefen Tränen über die Wangen.
    Die Mönche gaben ihnen etwas zu essen. Sie fuhren am Spätnachmittag ab. Lange Zeit fuhren sie gemächlich und schweigend nach Moskau zurück. Olga schlief ein. Erst nach einer Stunde begann Sergej zu sprechen. »Wir werden es tun. Wir werden Rußland wiederaufbauen. Natürlich müssen wir mit

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