Russka
Wald und Steppe
180 n. Chr.
Die Steppe lag still in jener Nacht. Auch der Wald war still. Leise strich der Wind übers Land. Hoch am sternklaren Himmel zogen gemächlich blasse Wolken dahin, sanft erglühend im Licht des zunehmenden Mondes auf seiner Wanderung nach Süden. Sie kamen von Osten mit geblähten weißen Segeln, aus endlosen Steppen, glitten majestätisch über die kleine Ansammlung von Hütten am Flußufer hinweg und setzten ihre Reise fort über den dunklen Wald, der auch ohne Ende schien.
Der Weiler lag am Südostufer des Flusses. Hier lichteten sich die Wälder aus Eiche und Linde, aus Kiefer und Birke, öffneten sich breite Streifen Graslandes, die den Rand der mächtigen Steppe bildeten. Auf der anderen Seite des Flüßchens, am Nordwestufer, stand der Wald dicht und dunkel.
Die drei Familien, die hier wohnten, waren vor fünf Sommern gekommen. Sie fanden eine alte, verlassene, von einem Erdwall umgebene und von Gestrüpp überwucherte Einfriedung vor. Sie säuberten sie, errichteten eine hölzerne Palisade auf dem niedrigen Wall und bauten sechs Hütten innerhalb. Daneben schnitten zwei große Felder ungleiche Streifen zwischen den Bäumen hindurch. Außer dem sanften Rascheln der Blätter war kaum ein Laut zu hören, höchstens von kleineren Tieren oder von einem vorsichtigen Reh, das Blätterrascheln im Weiler und gelegentlich der Wind im langen Gerstenfeld.
Es war das Jahr 180 n. Chr. und doch wieder nicht. Wenn auch zukünftige Zeiten diesem Jahr diese Zahl zuordnen sollten – der christliche Kalender war noch nicht im Gebrauch. In der weit im Süden liegenden römischen Provinz Judäa, wo Jesus von Nazareth gelebt hatte, errechneten weise jüdische Rabbis das Jahr 3940 seit Erschaffung der Welt. Es war auch das hundertundzehnte Jahr seit der Zerstörung Jerusalems. Anderswo im mächtigen römischen Imperium war es das zwanzigste und letzte Jahr der Regierung des Mark Aurel, auch das erste Jahr der Willkürherrschaft des Commodus. In Persien zählte man das Jahr 491 der Seleukiden-Ära.
In jenem Weiler am Waldrand, fernab von den Zentren der politischen und kulturellen Brennpunkte, zählte man die Jahre nicht. Die Zahlen und Daten der zivilisierten Welt, die schriftlich festgehalten waren, kannte man hier nicht. Und selbst wenn sie bekannt gewesen wären – sie hätten keine Bedeutung gehabt. Dieses Land sollte eines Tages als Rußland bekannt werden.
Lebed lag neben ihrem kleinen Jungen. Im Schlaf waren ihr die bedrückenden Gedanken des Vortages aus dem Kopf gegangen. Zwölf Menschen schliefen in der Hütte. Fünf, darunter sie und ihr Kind, lagen auf dem breiten Bord, das sich über dem Ofen durch den ganzen Raum zog. In dieser warmen Sommernacht war der Ofen nicht geheizt. Die Luft war schwer von dem süßen, erdigen, nicht unangenehmen Geruch der Menschen, die den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet hatten, und dem Duft frischen Grases, der durch das viereckige offene Fenster hereinwehte. Sie lag an einem Ende des hölzernen Bords; ein bescheidener Platz, denn sie war die jüngste der Ehefrauen ihres Mannes, wenn auch mit siebenundzwanzig nicht mehr eben jung. Ihr Gesicht war breit, und sie hatte um die Hüften schon mächtig angesetzt. In der Beuge ihres drallen Arms lag der fünfjährige Junge. Sie hatte vor ihm Kinder gehabt, doch sie waren gestorben, und so war er alles, was sie besaß. Mit fünfzehn hatte sie geheiratet, und sie hatte immer gewußt, daß ihr Mann, der heute vierzig Jahre war und immer noch gut aussah, sie nur genommen hatte, weil sie kräftig war. Sie war zum Arbeiten da. Dennoch hatte sie wenig Grund zu klagen. Er behandelte sie nicht lieblos. Sein verwittertes Gesicht verriet eine gewisse Sanftheit, ja Nachdenklichkeit, und in seinen hellblauen Augen leuchtete leises Vergnügen auf, wenn er rief: »Da kommt ja meine Mordvinin!«
Für ihn war das ein Ausdruck der Zuneigung, für die übrigen eher das Gegenteil. Lebed galt der Sippe ihres Mannes als Halbblut. Woher stammte ihre Mutter: Aus dem Waldvolk? Von den Mordvinen?
Seit Urzeiten waren die Wälder, die Marschen, die sich Hunderte von Meilen nordwärts erstreckten, von verstreuten Stämmen der Finno-Ugrier bevölkert, wozu auch der Stamm ihrer Mutter gehörte. Diese breitgesichtigen, mongolisch aussehenden Menschen mit gelblicher Haut lebten als Jäger und Fischer in kleinen Hütten und Erdbehausungen in diesen riesigen einsamen Regionen. In früherer Zeit hatten die hellhäutigen Vorfahren von Lebeds
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