Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
geworden, und Olav besuchte die Handelshochschule in Bergen. Meine Schwester Edith war Handarbeitslehrerin, bis sie vor einigen Jahren heiratete.
Meine Brüder hatten allerdings tapfer mitgearbeitet. Sie hatten in allen Semesterferien gutbezahlte Ferienjobs gehabt und selbst einen Teil ihrer Ausbildung bezahlt. Nun, vielleicht könnte ich es auch tun. Hauptsache war, daß ich genug Geld für die ersten zwei, drei Semester hatte.
Die Wochen und Monate verflogen im Nu. Von Oslo kamen die Lichtpunkte unseres Alltagslebens, die regelmäßigen Briefe von Beate. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Anfang September hatte Senta einen Sohn bekommen - an dem Tag rief übrigens Beate an. Ich war am Apparat, und als Beate meine Stimme hörte, rief sie: „Heidilein, du bist Großtante! Ich habe einen Enkel!“
Ich gab die freudige Nachricht an meine Eltern weiter: „Liebe Eltern, ihr seid Uroma und Uropa geworden!“
Natürlich gab es Gelächter, aber es ist eine Tatsache, daß wir wirklich Beates Stiefkinder als unsere eigenen Blutsverwandten betrachten. Wir haben sie furchtbar gern, und nehmen lebhaften Anteil an allem, was sie betrifft. Daß Mutti für Sentas Kind schon etliche Strampelhöschen und Jäckchen gestrickt hatte, war selbstverständlich. - Wir freuten uns auch riesig mit und für Sonja, als sie in diesem Herbst zusammen mit ihrer Brötchengeberin, Lady Robinson, eine Australienreise machen durfte. Wir waren ganz aufgeregt, als sie uns schrieb, ihr Heiko sei dazu auserwählt, Lady Robinsons Nachfolger als Verwalter der Mary-Green-Stiftung zu werden.
„Dann haben wir sie Gott sei Dank in der Nähe“, war Beates Kommentar. „Im Vergleich mit Afrika liegt ja England sozusagen um die nächste Ecke!“
Ja, wir lebten mit in allem, was die Familie Rywig betraf. Bei uns, in unserer ruhigen kleinen Stadt, passierte nicht viel.
Bei der Vorprüfung vor Weihnachten war ich, bis auf die verflixte Mathematik, die Beste meiner Klasse. Mein Deutschlehrer kam aus dem wohlwollenden Nicken gar nicht heraus, wenn ich aufgerufen wurde!
Ich bat Senta, ihre Briefe an mich in Deutsch zu schreiben - sie spricht es ja fließend - und ich antwortete in Deutsch. Ich las deutsche Belletristik und lernte gutes Hochdeutsch. Durch Sentas Briefe lernte ich, was nicht im Wörterbuch steht. Ausdrücke, wie „Halt dich nun senkrecht, altes Haus“ - „Du heiliger Strohsack“ -„Ich muß mich auf die Socken machen“ - „Mein Göttergatte, der olle Quengelpott, stört mich schon wieder“ - und ähnliche Ausdrücke waren mir bald geläufig!
Es war gut so. Denn als das Schuljahr zu Ende war, geschah das, was ich befürchtet hatte: Meine Mathematiknote zerstörte mir die erhoffte „Ausgezeichnet“-Gesamtnote, und ich wußte, daß ich an der zahnärztlichen Hochschule in Oslo nicht aufgenommen werden würde.
Also schrieb ich einen außerordentlich höflichen und korrekten Brief an die Universität in Kiel, drückte die Daumen und betete zu dem mir unbekannten Schutzheiligen der Zahnmedizin.
Ein Brief an Senta
„Aber Kind“, sagte Mutti. „Du hast so fleißig gearbeitet dieses Jahr. Willst du nicht ein paar Wochen ausspannen, ganz einfach faulenzen? Du weißt ja, wie schön es auch bei Beate ist, zur Ruhe kommst du nicht bei ihr! Das große Haus, die vielen Menschen, vor allem meine beiden echten, nicht angenommenen Enkelkinder -willst du dich wirklich kopfüber in die Arbeit stürzen?“
Der Anlaß zu diesem Stoßseufzer war ein Brief von Beate, wo sie fragte, ob ich den Sommer bei ihr bleiben und so wie im vorigen Jahr etwas im Haushalt helfen wollte. „Worauf du dich verlassen kannst!“ war meine Antwort an Mutti.
„Ich wüßte nichts, was ich lieber täte! Du weißt doch, wie gern ich bei Beate bin. Außerdem habe ich eine Million Dinge, die ich mit Rolf und Senta besprechen möchte, und zwei Millionen Fragen zu stellen! Und du weißt sehr gut, daß Beste aufpaßt, ich werde mich nicht bei ihr überanstrengen!“
Also packte ich meinen Koffer und fuhr nach Oslo. Diesmal war es Hans Jörgen, der mich vom Zug abholte. Als Anerkennung für ein glänzendes Abitur hatte er den Führerschein machen dürfen und fuhr mich nun, gebläht vor Stolz, in Onkel Doktors großem, schönem Wagen aus der Stadt raus, zu dem idyllischen Vorort, wo Stefan und Annette vor dem Tor des Rywighauses warteten. Sie fragten schon, bevor Hans Jörgen meinen Koffer aus dem Gepäckraum geholt hatte, ob ich „was Schönes von Oma“, mitgebracht
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