Vertraute der Sehnsucht (German Edition)
TAGEBUCHEINTRÄGE
Aus dem geheimen historischen Archiv des Ordens
Washington, D. C., Hauptquartier
26. Dezember
Das Jahr spielt keine Rolle mehr, ebenso wenig wie das Datum. Angesichts dessen, was derzeit in der Welt passiert, nehme ich an, dass die Geschichtsschreibung fortan nur noch von einem Davor und einem Danach sprechen wird. Bevor die Menschheit von der Existenz der Vampire erfuhr und danach. Nach jenem unheilvollen Moment, als ein machtbesessener Vampir namens Dragos Hunderte der todbringendsten Stammesvampire – wilde, blutrünstige Rogues – befreite und jene eingekerkerten Monster auf eine arglose und gänzlich unvorbereitete Menschheit losließ. Noch während ich das hier schreibe, kann ich selbst kaum fassen, was ich mit eigenen Augen sehe.
Das Gemetzel ist unbeschreiblich. Die Panik beispiellos. Ich kann den Blick kaum abwenden von den Grausamkeiten in den Nachrichten oder im Internet, die uns hier in Maine, im vorläufigen Quartier des Ordens, unablässig erreichen. Ausnahmslos jeder Bericht zeigt schreiende Männer, Frauen und Kinder – hysterische Menschenmengen in dunklen Gassen auf ihrer panischen Flucht vor den tödlichen Verfolgern, die kein Einziger von ihnen abschütteln kann. Städte, die in Flammen aufgehen, verlassene, ausgebrannte Autos inmitten qualmender Ruinen, Geschützfeuer und schwelendes Elend. Wo man auch hinblickt, nichts als Blutvergießen und Mord.
Lucan und die übrigen Krieger des Ordens haben sich in Boston mobilisiert, um gegen die Gewalt vorzugehen, doch unsere Soldaten sind nicht mehr als ein Dutzend Stammesvampire, die gegen die Hundertschaften von Rogues antreten, die weltweit in die großen Städte strömen und diese regelrecht überschwemmen. Wenn endlich ein neuer Morgen anbricht und die Rogues zurück in die Schatten drängt, mag die Anzahl der Opfer weit in die Tausende gehen. Und der unweigerliche Schaden, der inmitten jenes blutigen Chaos‘ entstanden ist – ein tiefes Misstrauen zwischen Menschen und Vampiren – wird vielleicht niemals zu beheben sein.
Jahrhunderte der Verschwiegenheit und des Friedens, in einer einzigen Nacht zunichtegemacht …
345. Tag, N. E. M.
Fast ein Jahr ist seit der Ersten Morgendämmerung vergangen. So wird sie genannt – die Dämmerung jenes ersten Morgens nach den blutigen Angriffen der Rogues, welche die Welt für immer verändert haben. Die Erste Morgendämmerung. Was für ein hoffnungsvoller, unschuldiger Begriff für einen solchen Moment des Grauens. Doch das Verlangen nach Hoffnung ist verständlich. Es ist unerlässlich, solange die Wunden jener entsetzlichen Nacht und des ungewissen Morgens danach immer noch frisch sind.
Niemand versteht das Bedürfnis nach Hoffnung besser als der Orden. Die Krieger haben zwölf harte Monate lang gekämpft, um einen Anschein von Ruhe, einen Anschein von Frieden herzustellen. Dragos existiert nicht mehr. Die Rogues, die ihm als persönliche Massenvernichtungswaffen dienten, sind ihrerseits vernichtet. Die Monate des Blutvergießen und der Panik sind vorüber. Doch Misstrauen und Hass schwelen auf beiden Seiten. Es sind prekäre Zeiten, und ein winziger Funken Gewalt könnte eine neue Katastrophe entfachen.
In zwei Wochen soll Lucan im Namen der Stammesvampire vor den versammelten Nationen der Welt sprechen. In aller Öffentlichkeit wird er für den Frieden plädieren. Im Stillen hat er uns jedoch gewarnt, dass Menschen und Vampire ebenso gut in einen neuerlichen Krieg gestürzt werden könnten …
4. August, 10 N. E. M.
Bisweilen kommt es mir so vor, als wären seit jener Ersten Morgendämmerung vor zehn Jahren an die hundert Jahre des Blutvergießens und des Tötens vergangen. Die Kriege dauern an. Allerorts eskaliert die Gewalt. Anarchie regiert in den meisten größeren Städten und begünstigt kriminelle Aktivitäten rebellischer Banden und militanter Gruppen, als wäre das unablässige Morden auf beiden Seiten noch nicht genug.
Tag für Tag erreichen uns hier im Hauptquartier in D. C. ernüchternde Berichte aus den regionalen Kommandozentralen, die über die ganze Welt verstreut sind. Der Krieg verschärft sich weiter. Und beide Seiten üben sich in Schuldzuweisungen, die die Spannungen nur noch vertiefen und Öl auf eine ohnehin schon lodernde Flamme gießen. Unsere Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden zwischen Menschen und Stammesvampiren erscheint unwahrscheinlicher denn je.
Wenn ich mir den Zustand des Konflikts nach zehn Jahren ansehe, frage ich mich mit
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