SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
nicht mehr wahrgenommen werden.
Wir erleben das in der Finanzkrise, die selbst nur ein Symptom ist. Geld ist eine Frage des Vertrauens. Aber es geht um viel mehr als um die Wiederherstellung des Vertrauens der Märkte in sich selbst. Da mag es sein, dass diese Krise der Märkte in all ihrer Perversion und ohne es zu wollen die Wahrheit des Systems widerspiegelt. In Wahrheit geht es um eine Krise des Vertrauens in das System und seine Begriffe: Gerechtigkeit, Recht, Verantwortung, Gesetz, Pflicht, Gleichheit, Vernunft, Fortschritt, Öffentlichkeit, Parlament, Regierung, Wahlen, Demokratie. Wir erleben die Aushöhlung und dann den Verlust dieser Begriffe. Aber wir können auf sie nicht verzichten. Es gibt Schlauköpfe, die meinen, man brauche gar keinen Wertevorrat mehr. Wir werden ein paar kennenlernen. Für sie gilt Peter Sloterdijks berühmte Zynismus-Definition: »Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen.« Das sind also die Zeitgenossen, die meinen, es genüge völlig, sich »irgendwie durchzubringen«. Die Apathie für Besonnenheit halten und Angst für Vernunft und Faulheit für Weitblick. Man kann es sich ja auch in der Kapitulation gut einrichten. Das Problem ist nur: Für eine Demokratie, die den Namen verdient, reicht das auf Dauer nicht aus. Im zynischen Exil gibt es keine Demokraten.
Der englische Politologe Colin Crouch hat für unsere Gegenwart den sehr wirksamen Begriff der Postdemokratie geprägt: »Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.« In der Eurokrise wurde diese These verifiziert.
Und was kommt nach der Postdemokratie? Die Stille? Oder ein neuer Sturm? Was bleibt von uns übrig, wenn die Citoyens zu Verwaltungsbürgern werden, die ihrem Zynismus noch freieren Lauf lassen als die Politiker? Wir beobachten das bereits auf allen Seiten. Dem rechten Machtzynismus steht schon heute ein linker Verzweiflungszynismus gegenüber. Eine wütende Resignation der zusammengepressten Lippen, die dem System bereits so tief misstraut, dass ihr selbst die angedrohten, angekündigten oder vollzogenen Rücktritte der politischen Kaste gleichgültig geworden sind. Weil sie nichts bedeuten.
Wenn wir aber unsere Begriffe verlieren, dann verlieren wir die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verstehen. Der Finanzphysiker Emanuel Derman hat geschrieben: »Für Modelle der physikalischen Welt sind wieder gute Zeiten angebrochen. ... Was jedoch Modelle für die soziale Welt angeht, sind die Zeiten schlecht.« 2 Und zwar, weil die Modelle nicht mehr für Vorhersagen taugen. Wir haben eine Vorstellung davon, was ein Kanzler ist und ein Minister, und ein Präsident, und ein Bankier. Und wir haben solche Vorstellungen auch von einem Parlament, einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt, einem Gericht. Und wir erwarten von diesen Personen und Institutionen ein bestimmtes Verhalten. Was tun wir, wenn die Personen und Institutionen diese Erwartungen enttäuschen?
Weiter unten werden wir sehen, wie die Bundeskanzlerin sich vom Bundesverfassungsgericht den Vorwurf gefallen lassen musste, in der Eurokrise systematisch die Rechte des Bundestags verletzt zu haben. Das sind keine Kleinigkeiten. Wie sollen wir uns über Demokratie unterhalten, wenn wir immer dazu sagen müssen, dass wir darunter nicht dasselbe verstehen wie die Bundeskanzlerin?
Im Film rechtfertigt sich Ryans Gegenspieler, der CIA-Mann Ritter, mit den Worten, man dürfe die Dinge nicht nur in Schwarz und Weiß sehen: »Grau! Die Welt ist grau, Jack.« Je weiter die Entfremdung voranschreitet, desto mehr muss sich
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