Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
reiten, um eine möglichst große Strecke zwischen sie und uns zu bringen.«
Infolgedessen gab man den Pferden die Sporen und trieb dieselben so sehr an, wie es die Rücksicht auf die Sänfte und die Ponnies, welche dieselbe trugen, erlaubte. Später erlitt diese Schnelligkeit eine Unterbrechung durch einen für die Reiter sehr erfreulichen Umstand. Man erblickte nämlich ein Rudel Gabelantilopen, und es gelang, zwei derselben zu umkreisen und zu erlegen. Das gab hinreichend Proviant für den heutigen Tag.
Die Berge traten immer näher. Die Hochebene schien an den Fuß derselben zu stoßen; dies war aber keineswegs der Fall, da das Thal des Grand River dazwischen lag. Gegen Mittag, als die Strahlen der Sonne so heiß herniederbrannten, daß sie Mensch und Tier belästigten, gelangte man an eine schmale Stelle der felsigen Ebene, welche sich abwärts senkte. »Das ist der Anfang eines Canons, welcher uns zum Flusse führen wird,« erklärte Winnetou, indem er dieser Senkung folgte. Es war, als hätte ein Riese hier den Hobel angesetzt, um eine tief und immer tiefer gehende Bahn in den harten Stein zu schneiden. Die Wände rechts und links, erst kaum bemerkbar, dann manns-, nachher haushoch, stiegen immer höher an, bis sie oben scheinbar zusammenstießen. Hier in der Enge wurde es dunkel und kühl. Von den Wänden sickerte Wasser herab, welches sich auf der Sohle sammelte und bald fußtief wurde, so daß die durstigen Pferde trinken konnten. Und eigentümlich, dieser Canon zeigte nicht die leiseste Windung. Er war schnurgerade in den Felsen eingefressen, so daß, lange bevor man sein Ende erreichte, vorn ein heller Strich zu sehen war, welcher desto breiter wurde, je mehr man sich demselben näherte. Das war der Ausgang, das Ende des mehrere Hundert Fuß tiefen Einschnittes.
Als die Reiter bei demselben anlangten, bot sich ihnen ein beinahe überwältigender Anblick dar. Sie befanden sich im Thale des Grand River. Dieses war vielleicht eine halbe englische Meile breit, der Fluß strömte in der Mitte hin und ließ zu seinen beiden Seiten einen Grasstreifen frei, welcher von der senkrecht ansteigenden Canonwand begrenzt wurde. Das Thal lief von Nord nach Süd, gerade wie mit dem Lineal gezogen, und die beiden Felsenwände zeigten nicht den engsten Riß oder den kleinsten Vorsprung. Darüber stand die glühende Sonne, welche hier trotz der Tiefe des Canons das Gras dem Verdorren nahe brachte.
Kein einziger Riß? Und doch! Gerade den Reitern gegenüber gab es am rechten Ufer des Flusses einen ziemlich breiten Einschnitt, aus welchem ein sehr ansehnlicher Bach geflossen kam. Dorthin deutete Winnetou, indem er sagte: »Diesem Bache müssen wir aufwärts folgen; er führt nach dem Thale der Hirsche.«
»Aber wie kommen wir hinüber?« fragte Butler, welchem es um seine Tochter zu thun war. »Der Fluß ist zwar nicht reißend, scheint aber tief zu sein.«
»Oberhalb des Bacheinflusses gibt es eine Furt, welche so seicht ist, daß das Wasser in dieser Jahreszeit die Sänfte nicht berühren wird. Meine Brüder mögen mir folgen!«
Man ritt quer über das Gras bis an die Uferstelle, an welcher sich die Furt befand. Dieselbe lag so, daß man, am jenseitigen Ufer angekommen, auch noch den Bach überschreiten mußte, um an das rechte Ufer desselben zu gelangen, welches breiter und also bequemer zu passieren war als das linke. Winnetou trieb sein Pferd in das Wasser, und die andern folgten ihm. Er hatte recht gehabt; das Wasser reichte ihm lange nicht bis an die Füße. Dennoch blieb er, in der Nähe des andern Ufers angekommen, plötzlich halten und stieß einen halblauten Ruf aus, als ob er eine Gefahr entdeckt habe.
»Was gibt’s?« fragte Old Shatterhand, welcher hinter ihm ritt. »Hat sich das Flußbett verändert?«
»Nein; aber da drüben sind Männer geritten.«
Er deutete nach dem Ufer. Old Shatterhand trieb sein Pferd mehrere Schritte weiter und sah nun auch die Fährte. Sie war breit, wie von vielen Reitern; das Gras hatte sich noch nicht ganz wieder erhoben.
»Das ist wichtig!« sagte Old Firehand, welcher sich den beiden genähert hatte. »Wir wollen diese Fährte untersuchen; unterdessen müssen die andern im Wasser bleiben.«
Die drei ritten vollends an das Ufer, stiegen dort ab und betrachteten die Eindrücke mit ihren Kenneraugen.
»Das waren Bleichgesichter,« sagte Winnetou.
»Ja,« stimmte Old Shatterhand bei. »Indianer wären hintereinander geritten und hätten keine so breite, augenfällige
Weitere Kostenlose Bücher