Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
dem Waldesrande hin, um den letzteren mit scharfen Augen zu mustern. Da erhob der Jüngling die Hand, deutete vor sich hin und sagte im Kaltschakidialekte der Ketschuasprache:
»Schau, Anciano, dort scheint der Baum zu stehen. Ich weiß genau, daß es ein Ombu von dieser Größe war.«
Aus dem Umstande, daß der junge Mann sich dieser Sprache bediente, war mit Sicherheit zu schließen, daß seine Heimat nicht hier in dieser Gegend zu suchen sei. Der Ombu (Phytolacca dioeca) ist ein mächtiger Baum, dessen Blätter mit denjenigen des Maulbeerbaums große Ähnlichkeit haben. Das merkwürdigste an ihm ist sein Stamm, ein dicker Holzkörper vom Umfange einer mächtigen Eiche, der sich nach unten schnell ausdehnt und in gewaltige Wurzeläste teilt, die in Windungen eine Strecke über der Erde fortlaufen und erst dann in den Boden eindringen. Auf diese Wurzeln setzt man sich, wenn man den Schatten benutzen will, welchen die weit ausgebreitete Krone spendet. Aber dieser kolossale Stamm hat ein so lockeres Holz, daß es, wenn man hineinstößt, wie Zunder bricht. Darum ist der Ombu zu nichts zu gebrauchen, denn sein Holz ist nicht einmal zum Verbrennen tauglich. Man pflanzt ihn nur an, um einen Schattenspender zu haben.
»Du kannst recht haben, o Herr,« antwortete der Alte in derselben Sprache. »Der Ombu, unter welchem wir unsre Sachen vergruben, ehe wir die Gegenden der Spanier besuchten, hatte ganz dieselbe Gestalt wie dieser. Laß uns nachsehen!«
Der Alte nannte den jungen »Herr«, bei Indianern ein ganz und gar unmöglicher Brauch. Diese beiden Personen schienen in einem ganz eigentümlichen Verhältnisse zu einander zu stehen. Sie schritten auf den Ombu zu, blieben unter demselben halten und legten ihre Taschen und Gewehre ab. Dann untersuchte der Alte den Boden. Auf eine Stelle deutend, an welcher das Gras im Wachsen zurückgeblieben war, sagte er:
»Du hast richtig vermutet, Herr. Wir sind an Ort und Stelle. Weil wir damals den Rasen hier aufgruben, hat dem Grase die Ernährung gefehlt. Ich werde suchen. Hoffentlich hat niemand diesen Ort entdeckt.«
Er kniete nieder und zog das Messer, um die Erde aufzugraben. Der Jüngling wollte dasselbe thun; der Alte aber bat:
»Laß es mich allein thun, o Herr! Du bist zum Herrschen geschaffen, nicht aber zu dieser Arbeit eines Untergebenen.«
»Und dennoch helfe ich dir, lieber Anciano. Du weißt ja, ich thue es gern, denn du bist alt, und ich bin jung.«
Aber Anciano schob ihn mit dem Arme sanft zurück und antwortete:
»Alt? Ich bin noch nicht alt. Ich zähle erst ein einziges über hundert Jahre; meine Vorfahren aber sind viel, viel älter geworden.«
Während der Alte emsig grub, fuhr er fort:
»Ja, weit über hundert Jahre! Mein Vater zählte hundertzehn, mein Großvater hundertelf und dessen Vater gar hundertzwanzig. Und dessen Vorgänger war es, der deinen Urahnen aus der Hand der Spanier rettete, als sie den großen Inka Atahualpa ermordeten und seine ganze Familie ausrotten wollten. Haukaropora hieß dieser dein göttlicher Vorfahre, und denselben Namen hast du auch erhalten. Er war der jüngste Sohn von Atahualpa und in der Ferne geboren, so daß Pizarro, der Mörder, nichts von seinem Dasein wußte. Unser großes Reich wurde zerstört, mit dem Schwerte und dem Feuer, durch List, Betrug und Verrat. Man meint, die Inkas seien ausgestorben, aber du lebst, der letzte der Sonnensöhne, und es wird die Zeit kommen, in welcher du die Spanier bestrafen und dein Reich zurückerobern wirst.«
Haukaropora hatte sich in das Gras gestreckt und, den Kopf in die Hand gestützt, den Worten des Alten zugehört. Sein Gesicht hatte einen tief wehmütigen, ja melancholischen Ausdruck angenommen. Er seufzte auf und sagte, als Anciano jetzt schwieg:
»Das hast du mir schon so oft gesagt, aber ich glaube es nicht. Ich glaube dir alles, alles, nur dieses nicht.«
»Wie? Du glaubst nicht, daß du ein Inka, ein Sohn der Sonne bist?« fragte der Alte erstaunt.
»Das glaube ich, denn du hast es mir bewiesen, und ich selbst fühle in mir etwas ganz Unbeschreibliches, was mir sagt, daß ich nicht so bin wie andre. Aber, daß das Reich meiner Ahnen wieder erstehen könne, das glaube ich nicht.«
Da richtete sich der Alte aus seiner gebückten Haltung auf und antwortete in feierlichem Tone:
»Du sollst und mußt es aber glauben, denn es gibt eine Gerechtigkeit, welche jede Sünde, jede Missethat bestraft und dem Unschuldigen das wiedergibt, was ihm genommen wurde. Du wirst das
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