Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
Latein vorsagen, welches Sie wohl schwerlich nachsprechen können. – Señor Capitan, bemächtigen Sie sich dieser beiden sogenannten Deutschen! Der Carnicero ist ungefährlich; ihn wollen wir laufen lassen, da er, wenn wir ihn bei uns behielten, uns nur hinderlich sein würde. Er mag sein Pferd und seine Waffen nehmen und reiten, wohin es ihm beliebt.«
Nichts konnte dem Chirurgen lieber sein als diese Entscheidung. Er sattelte schnell sein Pferd, nahm seine Flinte und stieg auf, um davonzureiten. Aber wohin? Als er der Truppe aus den Augen war, hielt er an, um zu überlegen.
»Eine tolle Geschichte!« brummte er in den Bart. »Dieser deutsche Knochensucher soll der Oberst Glotino sein. Fällt ihm gar nicht ein! Er hat das Waffenversteck wirklich für das Lager eines uralten Tieres gehalten. Diese Kerls, welche uns überraschten, wollen sich mit den Indianern verbinden, um sich gegen die Regierung zu empören. Sie sind Halunken. Sie sprachen davon, den Deutschen töten zu wollen. Er ist ein guter Mensch, und ich möchte ihn retten. Aber wie?«
Er dachte nach, fuhr dann plötzlich aus seinem Sinnen auf und meinte zu sich selbst:
»Ich hab’s! Ich brauche ja nur dem Vater Jaguar nachzueilen und ihm zu erzählen, was geschehen ist. Seine Spur wird nicht mehr zu sehen sein, aber ich weiß ja die Richtung, die er eingeschlagen hat. Also schnell vorwärts!«
Er jagte mit seinem Pferde von dannen.
El Hijo del Inka
Ungefähr zwanzig Kilometer im Norden von der Stelle, an welcher sich das soeben Erzählte ereignete, liegt jenseits des Rio Salado die Laguna Tostado. Der schon erwähnte Monte impenetrabile, d. i. undurchdringliche Wald, schickt seine Ausläufer bis an das Ufer der Lagune. Er dehnt sich längs des Rio Salado in nordwestlicher Richtung aus und ist nur da zu durchqueren, wo durch irgend welche Einflüsse oder Zufälle eine natürliche Öffnung entstanden ist. Diese Öffnungen bilden die Ausfallspforten, durch welche die Indianer des Chaco ihre Raubzüge in das bewohnte Land unternehmen.
Am Nachmittage desselben Tages schritten zwei Personen langsam und wie suchend an dem Rande des Waldes hin. Die eine, welche voranschritt, war ein sehr alter Mann, dessen Gesicht so viele Falten und Fältchen hatte, daß man sie nicht zu zählen vermochte. Er schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, doch waren seine Bewegungen so kräftig und sicher, daß man ihn für viel jünger hätte halten mögen, als er wirklich war. Seine Kleidung bestand aus einer langen Hose von weichgegerbtem Leder und einem kurzen Hemde aus demselben Stoffe. Das letztere wurde über den Hüften von einem schmalen Gürtel zusammengehalten, in welchem ein Messer steckte. Die Füße staken in niedrigen, sandalenartigen Schuhen, denen man es ansah, daß er sie wohl selbst gefertigt hatte. Ein über der Schulter hängender Riemen trug ein großes Pulverhorn, einen ledernen Bleibeutel und eine eiserne Kugelform. Den Kopf trug der Alte unbedeckt oder vielmehr nur bedeckt von dem dichten, langen, wie Silber glänzenden Haare, welches wie eine Mähne hinten bis zum Gürtel herniederhing. Von einem Barte aber war keine Spur zu sehen. Auf dem Rücken trug er eine Art Jagdtasche, welche aus dem Felle eines Silberlöwen gefertigt war, und in der Hand ein starkes, einläufiges Gewehr.
Die andere Person war ganz genau so gekleidet und bewaffnet wie dieser Mann, trug eine ganz gleiche Tasche auf dem Rücken und das Haar auch lang bis auf den Gürtel hinab, war ihm aber in andrer Beziehung um so mehr unähnlich. Dieser andre war nämlich ein Jüngling, welcher kaum achtzehn Jahre zählen mochte, nicht lang, aber stark und untersetzt gebaut und von einer auffallenden Gewandtheit in seinen Bewegungen. Sein Haar besaß die tiefste Schwärze; sein Gesicht war jugendlich frisch und vom Gehen jetzt leicht gerötet. Man mußte ihn ebenso wie den Alten für einen Indianer halten, und doch hätte man aus einigen Anzeichen schließen mögen, daß er kein solcher sei. Seine dunkeln Augen standen nicht schief gegen einander; die Backenknochen traten nicht hervor; die Lippen waren fein, und die kleine Nase hatte keineswegs die aufgeworfene Gestalt, welche den Nasen der Indianer Südamerikas eigen ist; sie besaß vielmehr eine edle Form, sie war schmal und leicht gekrümmt. Sein Gesicht war zwar jetzt von der Sonne verbrannt, hatte aber jedenfalls ursprünglich eine viel hellere als die gewöhnliche Indianerfarbe.
Beide schritten zwischen dem Wasser der Lagune und
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