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Saemtliche Werke von Karl May - Band 01

Saemtliche Werke von Karl May - Band 01

Titel: Saemtliche Werke von Karl May - Band 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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mitteilen könntet, das habe ich schon beinahe erraten. Ich will euch etwas zeigen.«
    Er öffnete sein Lederkoller und zog einen kleinen, goldglänzenden Gegenstand hervor, den er an einer Schnur am Halse hängen hatte. Er band ihn los und reichte ihn Anciano hin. Es war eine kleine, außerordentlich kunstvoll gearbeitete Schale, welche einen Durchmesser von höchstens drei Zoll besaß.
    »Ein Taubecher!« rief Anciano betroffen aus. »In dieser Schale wurde der Morgentau aus den Kelchen der Tempelblumen gesammelt und der Sonne, damit sie ihn trinken möge, zum Opfer gebracht.«
    »Das wußte ich nicht. Der Zweck dieser Schale war mir unbekannt,« antwortete der Vater Jaguar.
    »Señor, es ist ein heiliges, ein sehr heiliges Gefäß l«
    »Das weißt du so bestimmt? Damit beweisest du, daß deine Vorfahren Peruaner waren.«
    »Ja, das waren sie,« gestand der Alte.
    »Die meinigen waren die Herrscher des Volkes,« fügte Haukaropora hinzu. »Ich bin der einzige Nachkomme von ihnen, und nur sehr wenige treue Menschen wissen davon.«
    »Ich dachte es. Du besitzest die verborgenen Schätze deiner Ahnen?«
    »Warum fragen Sie so?«
    »Diese Opferschale sagt es mir.«
    »Woher haben Sie dieselbe?« fragte Anciano. »Wie sind Sie in den Besitz derselben gelangt?«
    »Ich habe sie gefunden.«
    »Wo?«
    »Zwischen der Salina del Condor und der Barranca del Homicidio.«
    »Dort, also dort! Welch eine Entdeckung! Wann ist das gewesen?«
    »Vor fünf Jahren.«
    »In welcher Mondeszeit? Können Sie sich darauf besinnen?«
    »Ganz genau. Es war am Tage nach dem Vollmonde.«
    »Das ist richtig, wie es gar nicht richtiger sein kann. Nur in der Nacht des Vollmondes pflegte dein Vater in die Schlucht hinabzusteigen.«
    Diese letzteren Worte waren an den Inka gerichtet. Dieser hatte sich die Schale geben lassen, betrachtete sie, küßte sie und sagte dann, indem sein Auge in feuchtem Glanze schimmerte:
    »Also diese Schale hat mein Vater, der vorletzte Inka, in den letzten Stunden seines Lebens bei sich getragen! Señor, Sie bekommen sie nicht wieder; Sie müssen sie mir lassen. Ich werde Ihnen etwas viel Größeres und Wertvolleres dafür geben!«
    »Behalte sie! Ich mag nichts dafür, denn sie hat in dir ihren rechtmäßigen Eigentümer gefunden.«
    »Ich danke Ihnen! Aber haben Sie nur diese Schale gefunden? Nichts weiter, gar nichts weiter?«
    »Noch viel, viel mehr! Aber es war nichts Erfreuliches, sondern im Gegenteile etwas Schreckliches.«
    »Was?«
    »Soll ich es wirklich sagen, so mache dich auch darauf gefaßt, Schlimmes zu hören!«
    »Sprechen Sie, Señor! Ich bin stark und immer gewöhnt, an den Tod meines Vaters zu denken. War es noch etwas von ihm, was Sie fanden?«
    »Nein, sondern er selbst war es.«
    »Er selbst? Also seine Leiche?«
    »Ja.«
    Der Inka sah lange Zeit vor sich nieder auf den Sattel. Keine Muskel seines Gesichtes bewegte sich; aber er war bleich, sehr bleich geworden. Der alte Anciano fuhr sich mit den Händen einigemal über die Augen und schwieg auch. So ritten die drei eine ganze Weile nebeneinander hin, bis der Alte endlich das Schweigen brach und den Vater Jaguar mit bebender Stimme fragte:
    »War er tot? Gab es keine Spur von Leben mehr in ihm?«
    »Er war tot!«
    »Und wie war er gestorben? Konnten Sie das sehen? Konnten Sie entscheiden, ob ein Mord vorlag oder ob ein ehrlicher Kampf stattgefunden hatte?«
    »Es hatte keinen Kampf gegeben, weder einen ehrlichen noch einen unehrlichen. Ich hätte die Spuren desselben auch am Boden sehen müssen, da dieser von den Füßen zerstampft und aufgewühlt gewesen wäre. Es lag ein Mord vor, ein heimtückischer Meuchelmord. Der Tote hatte von hinten eine Kugel in die Brust bekommen.«
    »und das Haar, das Haar, sein schönes, herrliches Haar, welches viel länger war als das meinige?«
    »Es war weg, war fort. Der Ermordete war skalpiert worden.«
    Keiner von beiden, weder der Inka noch Anciano, sprach eine Klage aus. Sie schwiegen jetzt wie vorhin, um Herr ihrer Gefühle zu werden. Dann begann der Alte wieder:
    »Erzählen Sie uns, wie das gekommen ist! Wir müssen alles, alles erfahren, selbst die geringste Kleinigkeit!«
    »Es ist da nicht viel zu erzählen. Weshalb ich in jene Gegend kam, und was ich da wollte, das wird euch gleichgültig sein. Ich kam nach der Salina del Condor, um mich und mein Maultier da auszuruhen, denn ich war fast die ganze helle Vollmondsnacht hindurch geritten. Während mein Maultier von dem spärlichen Grase naschte und

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