Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
müssen und zugleich dafür sorgen können, daß ich nicht wieder von einer solchen Gefahr überrascht werde. Die halbe Stunde, welche uns erlaubt wurde, ist längst vorüber. Wir wollen weiterreiten.«
Sie kehrten mit dem Indianer zu den Pferden zurück und trieben dieselben sodann zu solcher Eile an, daß sie die Vorangerittenen nach zwei Stunden einholten. Morgenstern sprach nicht von seinem Unfalle, und dem treuen Diener fiel es auch nicht ein, seinen Herrn durch die Erzählung desselben zu kränken.
Es war um die Mittagszeit, als die Bodenformation eine andre wurde. Es gab niedrige, aber lange, wellenförmige Erhebungen, welche die Ebene nach verschiedenen Richtungen durchschnitten und derselben das Ansehen gaben, als ob hier eine Unzahl kleiner Seen oder Teiche gelegen hätten, nach deren Austrocknung nun die frühern Dämme als Erhöhungen zu sehen seien. Diese Dämme waren meist mit Büschen bestanden, während in den tiefer liegenden einstigen Wasserbetten Gras wuchs. Hinter dieser eigenartigen Szenerie breitete sich ein endlos scheinender Streifen Waldes aus, welcher gerade an dem Punkte, auf welchen der Führer zuritt, eine Öffnung hatte. Rechts und links, so weit man zu sehen vermochte, lief dieser Wald in ebenes Land hinaus; gerade vom aber stieg er hoch empor; er schien da einen Berg zu bedecken, in dessen Inneres die erwähnte Öffnung führte. Als der Vater Jaguar dies sah, fragte er den Häuptling:
»Warum bleiben wir nicht im ebenen Lande? Können wir durch den Berg kommen?«
»Ja,« antwortete der Gefragte. »Der Berg ist rund und hohl. Er birgt in seinem Innern ein Thal, welches Valle del Lago desecado genannt wird. Da können wir hindurch, während der Wald aber so dicht ist und die Bäume desselben so durch Schlingpflanzen verbunden sind, daß kein Reiter, geschweige denn eine ganze Schar, hindurch kann. Selbst ein Fußgänger müßte sich den Weg mit dem Beile oder dem Messer bahnen und würde in einem Tage höchstens so weit kommen, daß er diesen Weg in einer Viertelstunde zurücklegen könnte.«
»Kann man den Wald nicht umreiten?«
»Ja; aber er ist nach beiden Seiten so lang, daß wir einen Umweg machen müßten, welcher gewiß einen ganzen Tagesritt beträgt. Durch das Thal aber reiten wir nicht eine halbe Stunde lang, und dann kommen wir noch einmal so lang durch die Breite des Waldes, hinter welchem wieder der Campo beginnt.«
»Und wie weit ist’s nachher bis zu deinem Dorfe?«
»Wir werden dort sein, noch ehe es dunkel geworden ist.«
»Wer von hier aus nach dem Dorfe will, muß also, um keinen Umweg zu machen, durch dieses Thal des ausgetrockneten Sees gehen?«
»Ja.«
»Das ist gut, sehr gut!«
»Warum?«
»Davon nachher, wenn ich das Thal gesehen habe. Ich vermute, daß wir die Lage und Beschaffenheit desselben ganz vortrefflich gegen unsre Feinde ausnutzen können.«
Von weitem hatte es geschienen, als ob diese Öffnung eine Art Tunnel sei, denn die zu beiden Seiten derselben stehenden Bäume schickten sich ihre Äste zu und bildeten mit ihren Wipfeln ein geschlossenes Dach über diesem Eingange zum Thale. Aber als man näher kam, war zu sehen, daß man es mit einer Lücke zu thun hatte, welche in einen länglichen Kessel führte, den das Innere des Berges bildete.
Als die Reiter in demselben anlangten, hielt der Vater Jaguar sein Pferd an und schaute sich um. Es war allerdings sehr wahrscheinlich, daß sich hier einst ein See befunden hatte. Es gab noch heute einen kleinen Bach, welcher durch das einstige hintere Ufer kam und einen Weiher speiste, dessen helle Fläche in der Mitte des Thales lag. Die Wasser des Sees hatten das Ufer da, wo die Reiter jetzt hereingekommen waren, durchfressen und sich hinaus in die Ebene ergossen; dann war der Wald, welcher ihn umsäumt hatte, von der Höhe herabgestiegen und bedeckte nun die Seiten des Thales vollständig und so dicht, daß man nur mit Mühe zwischen den Bäumen einzudringen vermochte.
Der Vater Jaguar gebot den andern, zu warten, und umritt das ganze Thal, um den Rand desselben genau in Augenschein zu nehmen. Als er zurückkam, sagte er im Tone der Befriedigung:
»Für uns kann nichts vortrefflicher liegen als dieser Ort. Wir werden hier zu einem leichten Siege kommen.«
»Wieso, Señor?« fragte Lieutenant Verano. »Meinen Sie etwa, daß wir die Feinde hier erwarten sollen?«
»Ja.«
»Das würde die größte Dumm – wollte sagen, der größte Fehler sein, den wir begehen könnten.«
Der Lieutenant mußte
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