Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
zwar anerkennen, daß der Vater Jaguar ein seltener Mensch und Charakter sei, aber es widerstrebte ihm, sich demselben unterzuordnen. Er hielt sich als Offizier als viel höher stehend als diesen Mann; er sagte sich im stillen, daß eigentlich ihm das Kommando gehöre. Er hatte zwar versprochen, sich zu fügen, allein seine gewaltthätige, eigenmächtige Natur kam bei vielen Gelegenheiten, so auch wieder hier, zum Vorscheine.
»Freut mich, daß Sie das Wort nicht ausgesprochen haben, Señor,« sagte Vater Jaguar in ernstem Tone. »Ich bin nicht gewöhnt, mich in dieser Weise kritisieren zu lassen. Ich habe meine Meinung geäußert und bin nicht dagegen, daß Sie uns die Ihrige auch kundgeben. Warum halten Sie das, was ich meine, für einen Fehler?«
»Weil wir hier aufgerieben würden.«
»Wieso?«
»Das fragen Sie? Señor, ich bin allerdings Offizier, was Sie freilich nicht sind. Man kann bei einem Laien nicht militärische Kenntnisse voraussetzen; aber das, wonach Sie fragen, ist eine so einfache und selbstverständliche Sache, daß ich sehr verwundert bin, Sie noch fragen zu hören.«
Vielleicht hatte er die Absicht, mit diesen Worten den Vater Jaguar in der Achtung der andern herabzusetzen; dieser aber antwortete ihm, indem er ein kleines, ironisches Lächeln sehen ließ:
»Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich allerdings nicht begreife, wie wir hier aufgerieben werden könnten. Gehören wirklich so bedeutende militärische Kenntnisse dazu, dies zu wissen?«
»Eben ganz und gar nicht. Der gewöhnlichste Mensch muß es einsehen.«
»So habe ich vielleicht den großen Fehler, kein gewöhnlicher Mensch zu sein. Haben Sie also die Güte, meinem mangelhaften Begriffsvermögen zu Hilfe zu kommen!«
Der Lieutenant, welcher die Ironie nicht übersah, meinte in halb zorniger und halb überlegener Weise:
»Wenn wir uns hier im Thale aufstellen, sind wir von den ringsum liegenden Höhen eingeengt und werden, wenn der Feind hereindringt, erliegen müssen.«
»So! Das begreife ich noch immer nicht. Wir müssen erliegen, wenn der Feind hereindringt. Wenn! Merken Sie wohl: Wenn! Kann er denn herein? Der Zugang zum Thale ist, wie Sie sehen, nur so breit, daß ihn höchstens sechs oder sieben Menschen nebeneinander passieren können. Außerdem stehen da Bäume, hinter welche wir uns stecken können, um nicht von den feindlichen Kugeln oder Pfeilen getroffen zu werden. Wenn wir nur fünfzig wackere Kerls da stehen haben, so kann kein Feind herein, und wenn er tausend Mann stark sein sollte. Sehen Sie das nicht ein?«
Der Offizier antwortete nicht. Darum fuhr der Vater Jaguar fort:
»Sie sagen, wir seien von den Höhen eingeengt. Diese Höhen treten wohl auseinander, wenn der Feind hereinkommt? Oder ist es nicht so, daß er ebenso eingeengt sein würde wie wir? Dazu käme, daß stets derjenige im Vorteile ist, welcher den Posten zuerst besetzt hat. Sind Sie noch immer der Meinung, daß man Taktik und Strategie studiert haben muß?«
Verano zuckte nur die Achsel, da er doch nicht zugeben wollte, daß er unrecht gehabt hatte.
»Übrigens,« fügte der Vaterjaguar hinzu, »ist es gar nicht meine Absicht, dem Feinde den Eintritt in dieses Thal streitig zu machen. Ich will es vielmehr haben, daß er hereinkommt.«
»Aber warum denn nur!« fuhr der Offizier ungeduldig auf. »Das würde doch heißen, uns ihm in die Hände zu liefern.«
»Nein, sondern ihn in die unsrigen. Jetzt scheinen Sie es zu sein, welcher der Laie ist. Haben Sie wohl eine Ahnung, wann die Abipones ungefähr in dieser Gegend eintreffen werden?«
»Das kann niemand wissen.«
»Warum nicht? Es ist leicht zu erraten. Die Weißen, mit denen wir schon zusammengetroffen sind, haben Soldaten nach dem Palmensee bestellt. Sie werden nicht viel früher und nicht viel später dort eintreffen als diese. Das liegt in der Natur der Sache. Sie sind, um ihre Spur für uns unsichtbar zu machen, über den Rio Salado zurückgegangen. Diese Absicht zu erreichen, brauchen sie zwei Tage. Wenn sie dann ebenso rasch reiten, wie wir geritten sind, haben wir zwei Tage Vorsprung. Nehmen wir an, daß sie einen Tag brauchen, um sich auszuruhen, die mobilen Indianer zu sammeln und Beratung zu halten, so ergibt sich noch ein dritter Tag. Wir haben drei Tage bis hierher gebraucht, weil wir gut beritten sind und Pferde im Überflusse haben. Den Abipones aber fehlen die Pferde. Ihre Mannschaften werden aus Kavallerie und Fußtruppen bestehen; darum brauchen sie wenigstens vier Tage
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