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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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Herrin in Ordnung zu bringen. Die eine bedeckte die Thronsessel mit herrlichen purpurnen Polstern, eine zweite stellte silberne Tische vor die Sessel und setzte goldene Körbe darauf, die dritte mischte in einem silbernen Kruge den Wein und verteilte goldene Becher auf den Tischen umher; von der vierten endlich wurde frisches Quellwasser herbeigetragen, der Kessel auf den Dreifuß gesetzt und die Glut darunter geschürt, bis das Wasser kochte. Dieses mußte mir zu einem erquickenden Bade dienen, und als ich darauf gesalbt und angekleidet war, sollte ich in Kirkes Gesellschaft das Morgenmahl genießen. Aber obgleich reichliche Speisen vor mir auf meinem Tische standen, streckte ich doch nicht die Hände darnach aus, sondern saß schweigend und kummervoll meiner schönen Wirtin gegenüber. Als diese mich endlich nach der Ursache meines stummen Grames fragte, da sprach ich: ›Welcher Mann, der noch ein Gefühl für Recht und Billigkeit hat, könnte sich auch an Speise und Trank erfreuen, solange er seine Freunde im Elende weiß? Wenn du willst, daß ich mit Lust bei dir genießen soll, so laß mich meine lieben Genossen mit Augen sehen!‹
    Kirke ließ sich nicht lange bitten, sie verließ das Gemach, ihren Zauberstab in der Hand. Draußen schloß sie die Türe des Kofens auf und trieb alle meine Freunde heraus, die mich, der ich inzwischen auch herbeigekommen war, in der Gestalt neunjähriger Schweine umwimmelten. Nun ging sie bei allen umher und bestrich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal schälten sie sich aus der borstigen Hülle und wurden alle zu Männern, und zwar jünger und schöner, als sie vorher gewesen waren. Freudig eilten sie auf mich zu und reichten mir die Hände; als sie aber ihres elenden Schicksals gedachten, fingen sie alle zu weinen und zu jammern an. Die Göttin sprach darauf schmeichelnd zu mir: ›Jetzt, lieber Held, habe ich ja deinen Willen getan. Tu du nun mir auch den Gefallen und laß dein Schiff ans Ufer ziehen, birg seine Ladung in den Felsengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen lieben Genossen wohl bei mir sein!‹
    Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich suchte das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die mich schon lange für tot beklagt hatten und nun mit Freudentränen auf mich zustürzten. Als ich ihnen den Vorschlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und bei der Göttin einzukehren, zeigten sich auch sogleich alle willig, nur Eurylochos wehrte die Genossen ab und sprach zu ihnen: ›Habt ihr denn ein gar so großes Verlangen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palast der Zauberin eingehen wollt, die uns alle in Löwen, Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in dieser scheußlichen Gestalt ihr Haus zu hüten? Wie ist der Zyklop mit unsern Freunden umgegangen, als der Unverstand des Odysseus uns ihm in die Hände geliefert?‹ Als ich diese Schmähung hörte, empfand ich einige Lust in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den Kopf vom Rumpfe zu schlagen, obgleich er nahe mit mir verwandt war. Die Freunde sahen die Bewegung, die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich zur Besinnung.
    Nun brachen wir alle auf, und Eurylochos selbst, durch meine Drohung erschreckt, weigerte sich nicht, zu folgen. Inzwischen hatte Kirke unsre Freunde gebadet, mit Öle gesalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden sie alle ganz fröhlich beim Schmaus versammelt. Da war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen!
    Die Göttin sprach allen Mut ein und tat uns so viel Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Begleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr eingedenk zu sein. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede das Herz, und noch an demselben Abend umfaßte ich Kirkes Knie und flehte sie an, Wort zu halten und mich, wie sie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimat zu entsenden. Die Zauberin antwortete: ›Du hast recht, Odysseus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang bei mir zu halten; aber bevor du heimkommst, müßt ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das Reich des Hades und der Persephone, das Schattenreich besuchen und die Seele des blinden Greisen, des thebanischen Propheten Tiresias, um die Zukunft befragen; denn diesem 296
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    ist auch im Tode noch sein voller Geist und die Sehergabe durch Persephones Gunst verblieben; die Seelen der andern Toten sind alle nur wandelnden Schatten

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