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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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gleich.‹
    Als ich diesen Beschluß vernahm, fing ich zu weinen und zu jammern an; mir graute vor der Behausung der Toten, und ich fragte, wer mich denn geleiten sollte, denn eine Schiffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterblicher bei Leibes Leben unternommen. ›Laß dich die Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern‹, antwortete die Göttin; ›richte nur getrost den Mast in die Höhe und spanne die Segel aus! Der Nordwind wird euch schon hintreiben; bist du einmal am Gestade des Okeanos, des Stromes, der die Erde umgürtet, landest du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pappeln und Weidenbäume beisammen erblickst. Dies ist der Hain Persephones; dort ist auch der Eingang in die Unterwelt. Hier, in einem Tale bei einem Felsen, wo die schwarzen Ströme Pyriphlegethon und Kokytos, der letztere ein Arm des Styx, sich in den Acheron oder die Unterwelt stürzen, wirst du eine Kluft finden, durch welche der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbst du eine Grube und bringst den abgeschiedenen Seelen ein Totenopfer von Honig, Milch, Wein, Wasser und Mehl dar, gelobst ihnen auch ein Schlachtopfer, wenn du nach Ithaka heimkommst, und außerdem dem Tiresias einen schwarzen Widder; dann opferst du noch zwei schwarze Schafe, ein männliches und ein weibliches, und blickst dem vereinigten Strome durch die Kluft in die Tiefe nach, während deine Genossen die Tiere den Göttern verbrennen und zu ihnen beten. Da werden dir die Seelen der Toten erscheinen, und die Luftgebilde werden herauf ans Licht zu dringen begehren und von dem Blute der Totenopfer kosten wollen. Du aber wehrest sie mit dem Schwerte ab und erlaubst ihnen nicht, näher zu gehen, bis du den Tiresias befragt hast. Denn dieser wird bald herannahen und dir auch über deine Heimfahrt Aufschluß geben.‹
    Diese Rede tröstete mich einigermaßen. Am andern Morgen versammelte ich meine Freunde und wollte sie zum Aufbruch mahnen. Nun hatte sich einer von ihnen, mit Namen Elpenor, der jüngste von allen, aber weder besonders mutig noch sehr verständig, vom süßen Weine Kirkes trunken, von den Freunden entfernt und, um kühlere Luft zu atmen, auf dem platten Dache des Palastes gelagert. Dort war er am vorigen Abend eingeschlummert und hatte die Nacht über in ungestörtem Schlafe gelegen. Als er nun durch das Gewühl der sich erhebenden und zur Versammlung eilenden Freunde plötzlich aufgeweckt wurde, fuhr er empor und vergaß in der Betäubung, wo er war; anstatt sich zur Treppe zu wenden, taumelte er über das Dach hinaus und fiel den hohen Palast herunter, so daß ihm das Genick zerbrach und sein Geist auf der Stelle zum Hades fuhr.
    Ich aber sammelte meine Begleiter um mich her und sprach: ›Ihr meinet nun wohl, teure Freunde, nun gehe es geraden Weges ins liebe Vaterland? Aber ach, dem ist leider nicht so; die Göttin Kirke hat uns eine ganz andere Fahrt vorgeschrieben. Wir sollen hinunter in das schreckliche Reich des Hades und dort die Seele des thebanischen Sehers Tiresias wegen unserer Heimfahrt befragen!‹ Als meine Genossen dieses hörten, da brach ihnen fast das Herz vor Kummer; sie jammerten laut und rauften sich die Haare aus. Aber ihre Klage half ihnen nichts. Ich befahl ihnen, aufzubrechen und mit mir zum Schiffe zu wandeln. Kirke war uns vorausgeeilt; sie hatte die zwei Opferschafe uns ins Schiff bringen und dort anbinden lassen, auch uns mit Honig, Wein und Mehl für das Opfer reichlich versorgt. Als wir ankamen, schlüpfte sie mit einem stummen Abschiedsgruße leicht an uns vorüber. Wir aber zogen das Schiff ins Meer, richteten den Mast und die Segel und setzten uns betrübt auf die Ruderbänke. Ein günstiger Fahrwind, den uns Kirke schickte, blies in die Segel, und bald waren wir wieder auf der hohen See.«
    ODYSSEUS ERZÄHLT WEITER
    (DAS SCHATTENREICH)
    »Die Sonne tauchte ins Meer«, fuhr Odysseus nach einer Pause fort, den horchenden Phäaken zu erzählen, »als wir, von einem wunderbaren Fahrwinde vorwärts getrieben, am Ende der Welt beim Gestade der Kimmerier, das in ewigem Nebel liegt und von den Sonnenstrahlen niemals beleuchtet wird, am Strome Okeanos, der die Welt umgürtet, anlangten. Wir kamen an den Fels und die Zusammenströmung der Totenflüsse, wie es uns Kirke bezeichnet hatte, und opferten ganz nach ihrer Vorschrift. Sowie das Blut aus den Gurgeln der Schafe in die Grube floß, tauchten tief aus der Unterwelt die Seelen der Abgeschiedenen nach der Felsenkluft empor, in welcher wir uns, den Strom zur Seite,

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