Sagen des klassischen Altertums
See.
Ich selbst fuhr über dem Brausen aus dem Schlafe empor. Als ich das Unglück sah, das angerückt war, überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber über Bord springen und mich in dem Abgrund begraben sollte. Doch faßte ich mich wieder und beschloß zu bleiben und alles, was da kommen konnte, zu ertragen. Die Wut der Orkane warf uns an die Insel des Äolos zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den 293
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Schiffen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde in die Burg des Fürsten, den ich mit seiner Gemahlin und seinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf. Sie staunten alle nicht wenig über unsere Zurückkunft, als sie aber vollends die Ursache vernahmen, erhob sich der Verwalter der Winde zornig von seinem Sitze und rief mir entgegen: ›Verruchter Mensch, offenbar verfolgt dich die Rache der Götter! Einen solchen darf ich weder beherbergen noch geleiten! Geh mir aus dem Hause, Verworfener!‹ Mit diesem Fluche jagte er mich, den Seufzenden, von dannen, und schwermutsvoll schifften wir weiter.
Meinen Gesellen schwand aller Mut beim Ruder; es war schon wieder der siebente Tag vergangen, und nirgends wollte sich ein Land zeigen.
Endlich kamen wir an eine Küste und zu einer turmreichen Stadt. Die letztere hieß Telepylos und war der Sitz der Lästrygonen. Das alles wußten wir jedoch noch nicht, und von der Stadt erblickten wir auch nichts.
Der Hafen, in welchen wir einfuhren, war vortrefflich, eng geschlossen und von allen Seiten durch schroffe Felsen geschirmt, so daß das Gewässer in der Bucht stets ruhig und wellenlos war. Ich knüpfte mein Schiff zuerst im Hafen an, erklomm das felsige Ufer und schaute mich auf den Steinzacken, nach der Landseite gewendet, um. Nirgends entdeckte ich gebautes Feld, keinen Ackersmann, keine Stiere. Nur Rauch, wie von einer großen Stadt, sah ich gen Himmel aufsteigen. Da schickte ich zur Erkundigung zwei auserlesene Freunde voraus mit einem Herold. Diese stiegen ans Land und fanden bald einen Weg, der über eine Waldung der Anhöhen jenem Rauche zuging und sie endlich in die Nähe der Stadt führte. Vor dieser begegneten sie einer wasserschöpfenden Jungfrau, der rüstigen Tochter des Lästrygonenköniges Antiphates. Sie stieg eben zu der Quelle Artakia hinab, wo die Einwohner ihr Wasser holten. Das Mädchen, über dessen Größe sie sich nicht genug wundern konnten, bezeichnete ihnen freundlich ihres Vaters Wohnung und gab ihnen die gewünschte Auskunft über Land, Stadt und Beherrscher. Als sie nun aber in die Stadt und an den Palast kamen, so erstarrten sie erst vor Entsetzen. Da stand die Gemahlin des Lästrygonenköniges vor ihnen, so riesengroß wie der Gipfel eines Berges. Denn die Lästrygonen waren Riesen und Menschenfresser. Auch rief die Königin sogleich ihrem Gemahl, und dieser griff zum Gruße nach dem einen der Gesandten und befahl sogleich, ihn für sich zum Abendessen zuzurüsten. Die zwei andern nahmen in der Todesangst die Flucht nach den Schiffen. Der König aber rief brüllend die ganze Stadt unter die Waffen, und über tausend Lästrygonen, lauter Riesen, den Giganten ähnlich, kamen heraus und schleuderten große Feldsteine nach uns, so daß man auf den Schiffen nichts als das Geschrei Sterbender und das Zusammenkrachen der getroffenen Schiffsbalken hörte. Nur mein eigenes Schiff war von mir hinter einem Felsen so angebunden worden, daß es die Steine nicht treffen konnten. Als nun die übrigen Schiffe am Versinken waren, nahm ich von ihrer Mannschaft in dasselbe auf, soviel meiner Freunde noch unverletzt waren, und entrann mit ihnen auf meinem Schiffe unversehrt aus dem Hafen. Die andern Fahrzeuge aber versanken mit einer Unzahl Toter und Sterbender in den Abgrund.
Nun fuhren wir auf dem einzigen Schiffe zusammengedrängt weiter und kamen wieder an eine Insel mit Namen Aiaia. Hier wohnte eine sehr schöne Halbgöttin, ein Kind des Sonnengottes und der Okeanostochter Perse und Schwester des Königes Aietes. Sie hieß Kirke und hatte einen herrlichen Palast auf der Insel. Wir aber wußten nichts von ihr. Wir fuhren in eine Bucht der Insel ein, legten unser Schiff vor Anker und lagerten uns, müde von der Anstrengung, voll Verdruß und Betrübnis, im Ufergrase. Am dritten Morgen machte ich mich, mit Schwert und Lanze bewehrt, auf, das Land auszukundschaften. Endlich ward ich einen Rauch gewahr, und dieser stieg aus Kirkes Palast auf. Doch ging ich nicht sogleich auf die
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