Sagen des klassischen Altertums
stand, daß es ihm das Kinn bespülte, aber sooft er trinken wollte, wich die Welle zurück und versiegte, daß der schwarze Boden zu seinen Füßen sichtbar wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über sein Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven, Äpfeln: – wenn er aber, der Hungernde, sie mit den Händen haschen wollte, da schwang der Sturm die Äste aufwärts den Wolken zu, und seine Hand griff in die leere Luft. Auch den Sisyphos sah ich, den vergebliche Pein abquälte: er war bemüht, ein großes Felsenstück einen Berg emporzuschieben; angestemmt, mit Händen und Füßen arbeitete er sich ab und wälzte den Stein die Berghöhe hinauf. Sooft er aber schon glaubte, ihn auf dem Gipfel droben zu haben, glitt ihm das Felsstück aus den Händen und rollte schändlicherweise den Berg hinunter. Da begann denn seine Anstrengung von neuem: der Angstschweiß floß ihm von den Gliedern, und das Haupt hüllte eine Wolke von Staub ein. Ihm zunächst stand der Schatten des Herakles, doch nur sein Schatten, denn er selbst lebt als Gemahl der Jugendgöttin ein seliges Leben unter den Olympischen. Sein Schatten aber stand finster wie die Nacht, hielt den Pfeil auf der Bogensehne und blickte schrecklich umher, als wollte er ihn eben gegen den Feind abschnellen. Ein prächtiges Wehrgehenk, mit allerlei Tiergestalten geschmückt, hing ihm über die Schultern.
Auch er verschwand, und nun kam noch ein ganzes Gedränge anderer Heldenseelen. Gerne hätte ich den Theseus und seinen Freund Peirithoos herauserkannt. Aber bei dem grausenvollen Getöse der unzähligen Scharen kam mich plötzlich eine solche Furcht an, als streckte mir die Meduse ihr Gorgonenhaupt entgegen. Eilig verließ ich mit meinen Genossen die Kluft und wandte mich wieder dem Gestade des Okeanos und unsrem Schiffe zu. Dann segelten wir, wie ich es dem Schatten Elpenors versprochen hatte, nach Kirkes Insel zurück.«
ODYSSEUS ERZÄHLT WEITER
(DIE SIRENEN. SKYLLA UND CHARYBDIS. THRINAKIA UND DIE HERDEN DES SONNENGOTTES.
SCHIFFBRUCH. ODYSSEUS BEI KALYPSO)
»Nachdem wir die Gebeine unsres verunglückten Genossen«, fuhr Odysseus fort, »auf der Insel Aiaia verbrannt und zur Erde bestattet, auch dem Toten einen Grabhügel aufgehäuft hatten und eine Denksäule daraufgesetzt und von Kirke sehr freundlich empfangen und bewirtet worden waren, fuhren wir, von ihr vor allerlei Gefahren gewarnt und reichlich mit Lebensmitteln versorgt, weiter.
Das erste Abenteuer, das wir zu bestehen hatten und von welchem uns Kirke geweissagt, erwartete uns am Eilande der Sirenen. Dieses sind sangreiche Nymphen, die jedermann bezaubern, der auf ihr Lied horcht.
Am grünen Gestade sitzen sie und singen ihre Zauberlieder dem Vorüberfahrenden zu. Wer sich zu ihnen hinüberlocken läßt, ist ein Kind des Todes, und man sieht deswegen an ihrem Ufer moderndes Gebein 299
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
genug umherliegen. Bei der Insel dieser verführerischen Nymphen angekommen, hielt unser Schiff stille, denn der Fahrwind, der uns bisher gelinde vorwärts getrieben, hörte mit einemmal auf zu wehen, und das Gewässer schimmerte wie ein Spiegel. Meine Begleiter nahmen die Segel von den Stangen, falteten sie zusammen, legten sie im Schiffe nieder und setzten sich ans Ruder, um das Schiff so vorwärtszubringen. Ich aber gedachte an das Wort, das Kirke, die mir dieses alles voraussagte, gesprochen hatte. ›Wenn du an die Insel der Sirenen kommst und ihr Gesang euch droht, so verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß sie nichts hören; begehrst du aber selbst ihr Lied zu vernehmen, so befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast binde, und je sehnlicher du deine Freunde bittest, dich loszubinden, desto fester sollen sie die Seile schnüren!‹
Daran dachte ich jetzt, zerschnitt eine große Wachsscheibe und knetete sie mit meinen nervichten Fingern; das weiche Wachs strich ich sodann meinen Reisegenossen in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß aufrecht unten an den Mast; dann setzten sie sich wieder an die Ruder und trieben das Fahrzeug getrost vorwärts. Als die Sirenen dieses heranschwimmen sahen, standen sie in der Gestalt reizender Mägdlein am Ufer und stimmten mit wundersüßer Kehle ihren hellen Gesang an, der also lautete: Komm, preisvoller Odysseus, erhabener Ruhm der Achajer,
Lenke das Schiff ans Land, um unsere Stimme zu hören.
Denn noch ruderte keiner vorbei im dunkelen Schiffe,
Eh er aus unserem Munde
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