Sagen des klassischen Altertums
an die Freier und sprach: »Ihr tut wohl daran, heute zu rasten; morgen wir euch hoffentlich Apollo der Fernhintreffer Sieg verleihen. Einstweilen gestattet mir es, den Bogen zu erproben und zu versuchen, ob in den elenden Gliedern noch etwas von der alten Kraft geblieben ist.«
»Fremdling«, fuhr Antinoos bei diesen Worten des Helden auf, »bist du ganz von Sinnen? Betört dich der Wein? Willst du Hader beginnen wie der Zentaur Eurytion auf der Hochzeit des Peirithoos? Bedenke, daß dieser zuerst das Verderben selbst fand, so soll auch dich das Unheil treffen, sobald du den Bogen spannst, und du wirst keinen Fürsprecher mehr unter uns finden!« Nun mischte sich auch Penelope in den Streit.
»Antinoos«, sprach sie mit sanfter Stimme, »wie unziemlich wäre es, den Fremdling vom Wettkampf ausschließen zu wollen! Fürchtest du etwa, wenn es dem Bettler gelänge, den Bogen zu spannen, er würde mich als Gattin heimführen? Schwerlich macht er sich selbst diese Hoffnung. Bekümmere sich nur deswegen keiner von euch in seinem Herzen! Das wäre ja unmöglich, unmöglich!« »Nicht das fürchten wir, o Königin«, antwortete ihr Eurymachos hierauf, »nein! sondern wir fürchten nur die Nachrede bei den Griechen, daß nur schlechte Männer, von denen keiner vermocht hat, den Bogen des unsterblichen Helden zu spannen, um seine Gattin geworben haben; zuletzt aber sei ein Bettler aus der Fremde gekommen, der habe den Bogen ohne Anstrengung gespannt und durch die Äxte geschossen!« »Der Fremdling ist nicht so schlecht, als ihr wähnet«, sprach darauf Penelope; »sehet ihn nur recht an, wie groß und gedrungen sein Gliederbau ist! Auch er rühmt sich eines edlen Mannes als Erzeuger. So gebet ihm denn den Bogen! Spannt er ihn, so soll er nichts weiter von mir haben als Mantel und Leibrock, Speer und Schwert und Sohlen unter die Füße. Damit mag er hinziehen, wohin sein Herz begehrt.« Nun fiel Telemach ein und sagte: »Mutter, über den Bogen hat kein Achaier zu gebieten als ich, und keiner soll mich mit Gewalt davon abhalten, und wollte ich ihn dem Fremdling auf der Stelle schenken, damit in die weite Welt zu gehen. Du aber, Mutter, geh in dein Frauengemach zu Webstuhl und Spindel, das Geschoß gebührt den Männern.« Staunend fügte sich Penelope der entschlossenen Rede des verständigen Sohnes.
Und nun brachte der Sauhirt den Bogen, während die Freier ein wütendes Geschrei erhoben: »Wohin mit dem Geschoß, du Rasender? Juckt es dich, von deinen eigenen Hunden bei den Schweineställen zerrissen zu werden?« Erschrocken legte jener den Bogen von sich; aber Telemach rief mit drohender Stimme: »Hierher mit dem Bogen, Alter! Du hast nur einem zu gehorchen, sonst jage ich dich mit Steinen hinaus, obgleich ich der Jüngere bin. Wäre ich nur den Freiern überlegen, wie ich dir es bin!« Die Freier lachten und ließen von ihrem Zorne nach. Der Sauhirt reichte dem Bettler den Bogen, dann befahl er der Schaffnerin, die Pforten des Hintergemachs zu verriegeln, und Philötios eilte aus dem Palaste und verschloß sorgfältig die Türe des Vorhofs.
Odysseus aber beschaute sich den Bogen von allen Seiten, ob in der langen Zeit die Würmer nicht das Holz zernagt hätten und sonst etwas an ihm gebräche; und unter den Freiern sprach wohl ein Nachbar zu dem andern: »Der Mann scheint sich auf den Bogen nicht übel zu verstehen! Hat er wohl selbst einen ähnlichen zu Hause, oder will er sich einen darnach bilden? Seht doch, wie ihn der Landstreicher in den Händen hin und her dreht!«
Nachdem Odysseus den gewaltigen Bogen von allen Seiten geprüft, spannte er ihn nur leichthin, wie der 328
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Sänger die Saiten eines Lautenspiels, griff mit der rechten Hand in die Sehne und versuchte ihre Spannkraft.
Diese gab einen hellen Ton von sich, wie das Zwitschern der Schwalbe. Die Freier alle durchzuckte ein Schmerz, und sie erblaßten. Zeus aber donnerte vom Himmel mit heilvoller Vorbedeutung. Da faßte Odysseus mutig den Pfeil, der auf dem Tische, aus dem Köcher geschüttet, vor ihm lag, faßte den Bogen, zog die Sehne und die Kerbe und schnellte, mit sicheren Augen zielend, den aufgelegten Pfeil ab. Keine Axt verfehlte der Schuß: der Pfeil flog vom vordersten Öhr hindurch bis aus dem letzten. Dann sprach der Held:
»Nun, der Fremdling in deinem Palaste hat dir keine Schande gebracht, Telemach! Meine Kraft ist noch ungeschwächt, sosehr mich die Freier verhöhnt haben. Jetzt aber
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