Sagen des klassischen Altertums
der die ganze Rotte haßte. Dieser trat in die Schwelle und bemühte sich vergebens, den Bogen zu spannen. »Tu es ein anderer«, rief er, indem er die Hände schlaff herabsinken ließ, »ich bin der Rechte nicht! und vielleicht ist keiner in der Runde, der es vermag.« Mit diesen Worten lehnte er Bogen und Köcher an den Pfosten. Aber Antinoos schalt ihn und sprach: »Das ist eine ärgerliche Rede, Leiodes; weil du ihn nicht spannen kannst, soll es auch kein anderer vermögen? Auf, Melanthios«, sagte er dann zum Ziegenhirten, »Zünd ein Feuer an, stell uns den Sessel davor und bring uns eine tüchtige Scheibe Speck aus der Kammer, da wollen wir den ausgedörrten Bogen wärmen und salben, dann soll es besser gehen!« Es geschah, wie er befohlen, aber es war vergebens. Umsonst bemühte sich ein Freier nach dem andern, den Bogen zu spannen. Zuletzt waren nur noch die beiden tapfersten, Antinoos und Eurymachos, übrig.
ODYSSEUS ENTDECKT SICH DEN GUTEN HIRTEN
Nun geschah es, daß sich beim Hinausgehen aus dem Palaste der Rinderhirt und der Sauhirt begegneten, und ihnen folgte auf dem Fuße der Held Odysseus. Als sie Pforte und Vorhof hinter sich hatten, holte er jene ein und sprach zu ihnen leise und vertraulich: »Ihr Freunde, ich möchte wohl ein Wort mit euch reden, wenn ich mich auf euch verlassen kann; sonst schwiege ich lieber. Wie wär es, wenn den Odysseus jetzt plötzlich ein Gott aus der Fremde zurückführte? Würdet ihr die Freier verteidigen oder ihn? Redet unverhohlen, ganz wie es euch ums Herz ist.« »O Zeus im Olymp«, rief der Rinderhirt zuerst, »wenn mir dieser Wunsch gewährt würde, wenn der Held käme! du solltest sehen, wie sich meine Arme regen würden!« Ebenso flehte Eumaios zu allen Göttern, daß sie dem Odysseus Heimkehr verleihen möchten.
Als nun dieser ihres Herzens Gesinnung erkannt hatte, da sprach er: »Nun denn, ihr Kinder, so vernehmt's: ich selber bin Odysseus! Nach unsäglichen Leiden komme ich im zwanzigsten Jahr zurück in meine Heimat, und ich sehe, daß ich euch beiden willkommen bin, euch allein unter allem Gesinde; denn keinen unter allen hörte ich jemals um meine Wiederkehr zu den Göttern flehen. Dafür will ich auch jedem von euch, wenn ich die Freier bezwungen habe, ein Weib geben, Äcker schenken, Häuser bauen, ganz nahe 327
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
bei meinem Hause, und Telemach soll euch behandeln wie seine leiblichen Brüder. Damit ihr aber an der Wahrheit meiner Aussage nicht zweifelt, so erkennet hier die Narbe von jener Wunde, die der Eber dem Knaben auf der Jagd beigebracht hat.« Damit schob er die Lumpen seines Kleides auseinander und entblößte die große Narbe. Jetzt fingen die beiden Hirten zu weinen an, umschlangen ihren Gebieter und küßten ihm Gesicht und Schultern. Auch Odysseus küßte die treuen Knechte, dann aber sprach er: »Hänget eurem Grame nicht nach, lieben Freunde, daß uns keiner im Palaste verrate. Auch wollen wir alle nur einzeln, einer nach dem andern, hineingehen. Dann werden es die Freier nicht gestatten wollen, daß auch mir Bogen und Köcher gereicht werde; du aber, Eumaios, wandle nur keck mit dem Bogen durch den Saal und reiche mir ihn. Zugleich befiehlst du den Weibern, die Pforten des Hintergemachs fest zu verriegeln; und wenn man auch inwendig im Saale Lärmen von Männerstimmen und Stöhnen hört, so soll sich keine aus der Türe wagen, sondern ruhig bei der Arbeit verharren. Dir aber, treuer Philötios, sei das Hoftor anvertraut: riegle es fest zu und binde das Seil ums Schloß.« Nach dieser Weisung begab sich Odysseus in den Saal zurück, und die Hirten folgten ihm, einer um den andern. Eurymachos drehte jetzt eben den Bogen unermüdet über dem Feuer, ihn wärmend, aber es gelang ihm nicht, die Sehne zu spannen, und unmutig seufzend sprach er: »Ei wie kränkt es mich! Nicht so sehr um Penelopes Hand gräme ich mich, denn es gibt der Griechinnen noch genug in Ithaka und anderwärts; sondern daß wir gegen den Helden Odysseus so ganz kraftlos erscheinen sollen; darüber werden uns die Enkel noch verspotten!« Antinoos aber wies den Freund zurecht und sagte:
»Rede nicht so, Eurymachos, es feiert heute das Volk ein großes Fest; da ziemt es sich eigentlich gar nicht, den Bogen zu spannen. Laßt uns das Geschoß hinweglegen und wieder eins trinken; die Äxte mögen immerhin im Saale stehenbleiben, dann opfern wir morgen dem Apollo und vollbringen den Bogenkampf!«
Jetzt wandte sich Odysseus
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