Angélique - In den Gassen von Paris
Kapitel 1
N icolas hatte die Idee gehabt, die Reste der alten Stadtmauer, die einst Philipp II. um das mittelalterliche Paris hatte errichten lassen, durch seine treuen Gauner und Bettler besetzen zu lassen. In den letzten vierhundert Jahren hatte die Stadt ihren steinernen Gürtel gesprengt. Die Festungswälle auf dem rechten Seine-Ufer waren fast völlig verschwunden; doch auf dem linken Ufer standen sie noch, halb zerfallen und von Efeu überwuchert, voller Rattenlöcher und einladender Schlupfwinkel.
Um sie sich anzueignen, hatte Nicolas Calembredaine eine langsam angebahnte, arglistige und hartnäckige Attacke geführt. Die von seinem Ratgeber Cul-de-Bois ersonnene Strategie wäre wahrhaftig einer besseren Sache würdig gewesen.
Zuerst hatte man kleine Gruppen verlauster Kinder mit ihren zerlumpten Müttern geschickt, damit sie sich dort einnisteten; die Sorte Menschen, die der Armenbüttel nicht einfach verjagen konnte, ohne ein ganzes Viertel gegen sich aufzubringen.
Dann waren die Bettler auf den Plan getreten.
Es waren alte Männer und Frauen, Krüppel oder Blinde, die mit wenig zufrieden waren, mit einem Loch in der Mauer, in dem das Wasser von der Decke tropfte, einem Treppenabsatz, einer Nische, in der einmal eine Statue gestanden
hatte, oder einem Winkel in einem Keller. Schließlich waren die einstigen Soldaten mit ihren Schwertern oder ihren mit alten Nägeln geladenen Steinschloss-Donnerbüchsen gekommen und hatten sich der besten Plätze bemächtigt, der noch gut erhaltenen Wachtürme und Ausfallpforten mit ihren schönen, weitläufigen Räumen und Kellergewölben. Innerhalb weniger Stunden hatten sie die Handwerker und Gesellen und deren Familien vertrieben, die gehofft hatten, hier ein preiswertes Dach über dem Kopf zu finden. Die armen Menschen, die mit den Behörden der Stadt überkreuz lagen, wagten es nicht, Klage zu führen, und flüchteten. Sie waren froh, ein paar Möbel mitnehmen zu können und nicht mit einem Rapier im Leib zu enden.
Doch ganz so einfach verliefen diese Vertreibungen nicht immer. Unter den Bewohnern befanden sich eine Art von »Widerspenstigen«, nämlich die Mitglieder anderer Unterweltbanden, die sich weigerten, das Feld zu räumen. Es kam zu regelrechten Schlachten, von deren Heftigkeit die zerlumpten Leichen zeugten, die im Morgengrauen an den Ufern der Seine angespült wurden.
Am schwierigsten war die Eroberung der alten Tour de Nesle gewesen, des Turms mit den dicken Maschikulis, der sich dort erhob, wo die Seine mit alten Festungsgräben zusammentraf. Doch als sie endlich dort einziehen konnten, was für ein Wunder! Ein richtiges Schloss war das …!
Calembredaine schlug sein Hauptquartier im Turm auf. Erst jetzt wurden die anderen Anführer der Gaunerzunft gewahr, dass dieser Grünschnabel unter den »Brüdern« sich das ganze Universitätsviertel angeeignet hatte; die Umgebung der alten Stadttore von Saint-Germain, Saint-Michel und Saint-Victor bis hinunter zum Seine-Ufer und den Pfeilern der Tournelle-Brücke.
Die Studenten, die sich mit Vorliebe auf dem Pré-aux-Clercs
duellierten, die Kleinbürger, die sonntags gern in den alten Gräben nach Gründlingen angelten, die hübschen Damen, die ihre Freundinnen in Faubourg Saint-Germain oder ihre Beichtväter in Val-de-Grace besuchen wollten, konnten ihre Geldbörsen schon einmal bereithalten. Ein Schwarm von Bettlern tauchte vor ihnen auf, hielt die Pferde fest oder vertrat den Kutschen in den engen Durchfahrten oder auf behelfsmäßigen Brücken, die über die Gräben führten, den Weg.
Die Bauern oder Reisenden, die von auswärts kamen, hatten nun ein zweites Mal Wegezoll an die bedrohlich vor ihnen aufmarschierten »drilles«, die Haderlumpen, zu zahlen, obwohl sie sich schon lange mitten in Paris befanden. Calembredaines Leute errichteten Philipp Augusts alte Stadtmauer gleichsam neu, sodass sie fast so schwierig zu passieren war wie einst, als sie noch durch Zugbrücken gesichert war.
Man konnte nur den Hut ziehen. Das war wirklich ein Meisterstück im Königreich Tunis gewesen. Der gerissene und gierige Winzling, der es beherrschte, der Große Coesre Rolin-le-Trapu, mischte sich nicht ein. Calembredaine zahlte wie ein Fürst, und gewann täglich an Macht, denn er hatte Freude an exakt geplanten Schlachten und traf kühne Entscheidungen, die Cul-de-Bois mit seinem Organisationstalent ausführte. Von der Tour de Nesle aus nahm er den Pont-Neuf ein; das beste Jagdrevier mit seinem steten Strom
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