Sagen des klassischen Altertums
anvertraut, unvergleichliche Jungfrau!«
Nach diesen Anordnungen ging Turnus seinen eigenen Weg. Durch ein enges Tal mit vielen
Krümmungen, das von beiden Seiten eine schwarze Bergwand voll Waldes begrenzte, führte ein schmaler Fußpfad. Drüberhin, zuoberst auf dem Bergesgipfel, lag zwischen Wäldern verborgen ein ebenes Feld, wo sich ein sicherer Hinterhalt aufstellen ließ und von wo aus man rechts oder links angreifen oder aber von der Höhe herab Steine ins Tal herniederwälzen konnte. Dorthin zog Turnus mit seinen Scharen und lagerte sich auf der Höhe und in den Wälderschluchten.
Während dieses geschah, rückten die Trojaner und ihre etruskischen Bundesgenossen mit den Reitergeschwadern immer näher an die Mauern. Die Rosse brausten durch die Ebene, eine eiserne Saat von 373
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Spießen starrte, und die Felder schienen von den erhobenen Waffen zu brennen. Gegenüber erschienen die Latiner, Messapus mit seinem Bruder Koras an der Spitze, und die Reiterei der Volsker, von Kamilla angeführt. Als die Heere einander auf Speerwurfs Weite nahegekommen waren, standen sie einen Augenblick still und brachen dann plötzlich mit Geschrei hervor, ermunterten ihre Rosse, und von allen Seiten flogen Geschosse wie Schneeflocken, so daß die Luft ganz verdunkelt wurde. Sobald die feindlichen Scharen Speer gegen Speer miteinander kriegten, fing die Schlachtordnung der Latiner zu wanken an; sie warfen bald die Schilde auf den Rücken und lenkten ihre Rosse nach der Stadt hin. Aber ihre Flucht war nur verstellt; sowie sie bei den Mauern angekommen waren, drehten sie sich wieder und warfen sich, wie die Ebbe, die in die Flut umschlägt, mit erneutem Feldgeschrei auf die verfolgenden Etrusker, die nun ihrerseits wieder zurückwichen. So ging es zweimal, und erst das drittemal wurde das Treffen zur stehenden Schlacht, wo alle sich untereinandermengten und Mann sich Mann zum Kampfe auswählte. Jetzt erscholl bald ein Geächze von Sterbenden; Waffen und Leichen wälzten sich im Blutstrome, halblebende Rosse lagen unter Leichnamen vermischt, und andere bäumten sich über ihren abgeworfenen Reitern.
Mitten im Morden frohlockte, einer Amazone gleich gekleidet und aufgeschürzt, die Volskerin Kamilla, sandte bald Pfeile vom Bogen, bald schlanke Lanzen mit der Hand, bald griff sie zur Streitaxt, und auf ihrer Schulter schallte klirrend ihr goldener Köcher. Wenn sie auch einmal mit ihrem Rosse umlenkte und weichend über den Plan hinflog, so wendete sie doch noch den Bogen rückwärts und schickte im Fliehen einen Pfeil ab. Ein auserlesenes Gefolge von tapfern Jungfrauen umgab sie, Larina, Tulla und Tarpeja, welche sie sich selbst zur Gesellschaft auserkoren hatte und die in Krieg und Frieden ihre treuen Begleiterinnen waren. Eine Menge Phrygier stürzten unter ihren Würfen und Streichen. Endlich begegnete ihr im Kampfe auch einer der tapfersten Apenninenbewohner, als sie eben dem kühnen Orsilochus durch den Helm das Haupt gespalten hatte, der streitbare Sohn des Aunus, ein Ligurier. Der Anblick der furchtbaren Frau schreckte ihn, und als er sah, daß es ihm nicht mehr möglich war, dem Kampfe zu entrinnen und die ihn bedrängende Feindin abzulenken, sann er auf eine neue List und rief: »Was ist es denn so ein Großes, wenn ein Weib sich einem tapfern Rosse anvertraut! Entsag einmal dem flüchtigen Umherschweifen, steige von deinem Pferde und versuche den Kampf mit mir auf ebenem Boden; dann wollen wir sehen, ob dein windiges Prahlen standhält!« Diese Worte waren ein Stachel in das Herz der Jungfrau, sie übergab ihrer nächsten Gefährtin das Pferd und stellte sich dem Jünglinge, nur mit Schwert und Schild bewaffnet, zum gleichen Fußkampfe. Der Jüngling aber glaubte seinen Betrug gelungen; ohne abzusteigen gab er seinem Pferde die Sporen und ergriff mit umgewandtem Zügel die Flucht. »Betrüger!« rief die Heldin, als sie ihn fliehen sah, »du sollst die Künste deiner Heimat umsonst versucht haben, und deine List wird dich nicht zum verschlagenen Aunus zurückbringen!« Zugleich eilte sie mit geflügelten Sohlen dem Rosse voran, fiel ihm in die Zügel und stieß von vorn dem Reiter das Schwert in den Leib.
Aber auch auf der Gegenseite erhob sich ein gewaltiger Held, der Etruskerkönig Tarchon. Dieser trieb weichende Scharen vor sich her, belobte die Seinigen mit ermunterndem Zurufe, nannte jeden mit Namen, frischte die Zurückgedrängten zu neuem Kampfe auf und trieb
Weitere Kostenlose Bücher