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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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Die Rutuler sahen staunend zum Himmel auf, wo alle die Vögel in einem 376
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    luftverdunkelnden Schwarm, von der Flucht umgewendet, plötzlich ihren Feind, den Adler, der sich mit seiner Beute dem Himmelsgewölbe zuschwang, verfolgten, bis dieser, durch die Übermacht bezwungen und seine Last erschöpft, den Raub aus den Klauen fahren und in den Fluß fallen ließ, dann wieder die Höhe suchte und in den Lüften verschwand. Rutuler und Latiner begrüßten diese Erscheinung mit Freudengeschrei, legten die Hand an den Schwertgriff und lauschten ihrem Seher Tolumnius, der ihnen das Zeichen günstig deutete und sie zu den Waffen greifen hieß. Zugleich warf er selbst zuerst sein Geschoß auf die gegenüberstehenden Feinde, daß es zischend die Luft durchfuhr. Ein Lärm erhob sich, Verwirrung kam in alle Reihen, alle Herzen gerieten in Aufruhr. Ihm gegenüber standen nämlich neun schöne, schlanke Brüder, Söhne des Arkadiers Gylippus und einer einzigen edlen etruskischen Mutter. Einem von diesen stattlichen Jünglingen war der Speer des Tolumnius an der Gürtelschnalle mitten durch den Leib geflogen und hatte ihn in den Sand hingestreckt. Die acht Brüder des Gefallenen, von Schmerz um den Bruder entbrannt, schwangen ihre Lanzen, zückten ihre Schwerter; gegen sie stürzte sich die Macht der Rutuler.
    Nun brachen alle Arkadier, Trojaner und Etrusker los. Die Altäre wurden vom Gedränge zerwühlt, ein Sturm von Pfeilen durchlief die Luft, ein eiserner Speerhagel ergoß sich, Latinus selbst floh mit den Götterbildern, durch den Bruch des Bündnisses vertrieben; die einen schirrten ihre Wagen an, die andern schwangen sich aufs Roß, und andere stürzten sich mit gezogenen Schwertern ins Handgemenge. Ein fürchterliches Morden erhob sich.
    Äneas aber streckte die unbewehrte Rechte gen Himmel, warf sich unverhüllten Hauptes mitten unter die Seinigen und rief»Wo rennet ihr hin, Freunde, welche plötzliche Zwietracht hat sich erhoben? Hemmt doch eure Wut; der Bund ist ja geschlossen, die Bedingungen sind festgesetzt. Wer hindert uns Führer am Kampf?« Aber indem er noch sprach, schwirrte von unbekannter Hand ein Pfeil daher, und verwundet mußte der Held den Kampfplatz verlassen.
    Sowie Turnus sah, daß Äneas den Platz räumte und die Führer der Trojaner in Verwirrung gerieten, verlangte er Pferde und Waffen, schwang sich auf den Wagen, lenkte die Zügel in die Schlacht und richtete mit seinen Speeren Verheerung unter den Feinden an oder zermalmte sie unter seinen Rädern. Während er so auf dem Schlachtfelde Leichen auf Leichen häufte, brachten Mnestheus und Achates im Geleite des Askanius den verwundeten Äneas ins Lager zurück, blutend und Schritt für Schritt auf seinen Speer gestützt.
    Vergebens strengte er sich an, den im Leibe haftenden Pfeil am zerbrochenen Rohre herauszuziehen; er verlangte, daß die Wunde ausgeschnitten werde: Japyx, der Arzt, erschien; auf die Waffe geneigt, stand vor ihm der Held, unbewegt unter seinen weinenden Genossen. Der Alte aber, in der Heilkunst wohlerfahren, brauchte kein gewaltsames Mittel, sondern suchte mit wirksamen Heilkräutern den Pfeil in der Wunde lokker zu machen, faßte das Eisen mit packender Zange, rüttelte mit der Hand an dem Rohr; doch alle seine Kunst war nicht vermögend, das Geschoß herauszuziehen. Und während er sich vergebens abmühte, sah man schon die Staubwolke der feindlichen Reiter, dichte Geschosse fielen bereits ins Lager, und das Geschrei der Kämpfenden näherte sich.
    ÄNEAS GEHEILT. NEUE SCHLACHT. STURM AUF DIE STADT
    Da erbarmte sich Venus ihres gefährdeten Sohnes. Sie pflückte auf dem Idagebirge der Insel Kreta das herrliche Kraut Diktamnum mit seinen saftigen Blättern und purpurnen Blumen, brachte es, in eine dichte Wolke gehüllt, ins Lager herbei und träufelte von seinem Safte heimlich und allen ungesehen in den Kessel, in welchem die Heilkräuter des Arztes brodelten; dazu mischte sie noch Tropfen Ambrosias und das duftende Panazeenkraut. Japyx ahnete hiervon nichts; aber als er noch einmal die Wunde mit seinem Kräutersafte wusch, siehe, da entfloh plötzlich der Schmerz aus dem Leibe des Helden, zuinnerst in der Wunde versiegte das Blut; der Pfeil folgte von selbst und zwanglos der berührenden Hand und fiel aus dem Leibe heraus. Sichtlich waren dem geheilten Äneas die Kräfte zurückgekehrt. »Was zögert ihr?« rief der Arzt ganz vergnügt; »schnell dem Helden die Waffen gebracht!

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