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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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nachlässigen Schrittes der Enkel des Kadmos; ein schlimmes Schicksal führte ihn durch den heiligen Hain zu der Grotte der Artemis. Ahnungslos trat er hinein, froh, eine kühle Raststätte gefunden zu haben.
    Wie nun die Nymphen den Mann erblickten, schrien sie laut auf und drängten sich um die Gebieterin, sie mit ihren Leibern zu verbergen. Aber um Haupteslänge ragte die Göttin über alle empor. Hochauf richtete sie das vor Zorn und Scham erglühende Antlitz, das Auge starr auf den Eindringling gerichtet. Dieser stand noch immer regungslos, überrascht und geblendet von dem wunderbaren Schauspiel. Der Unglückliche!
    Wäre er doch entflohen, so schnell seine Füße ihn tragen mochten; denn jetzt beugte sich die Göttin plötzlich zur Seite, schöpfte mit der Hand ein wenig von dem Wasser des Quells, spritzte es dem Jüngling über Antlitz und Haupthaar und rief mit drohender Stimme: »Was du gesehen, verkünde es nun den Menschen, wenn du vermagst!« Kaum war das letzte Wort gesprochen, da ergriff ihn unsägliche Angst; eilenden Schrittes stürzte er davon und wunderte sich im Lauf über seine Schnelligkeit. Der Unselige merkte es nicht, daß ein Geweih seinem Scheitel entsproßte, daß sein Hals sich verlängerte, die Ohren sich spitzten, seine Arme in Beine, seine Hände in Hufe sich verwandelten. Schon überdeckte die Glieder ein geflecktes Fell; er war kein Mensch mehr, in Hirschgestalt hatte ihn die zürnende Göttin gewandelt. Jetzt erblickte er auf der Flucht sein Bild im Spiegel des Wassers. »Weh mir Unglücklichem!« wollte er rufen, aber stumm war sein Mund, kein Wort entrang sich der stöhnenden Brust; nur ein angstvolles Seufzen konnte er ausstoßen; Träne auf Träne rann ach, nicht über menschliche Wangen! Nur sein Herz, seine alte Besinnung war ihm geblieben.
    Was nun tun? Heimkehren in den großväterlichen Palast? Im tiefsten Wald sich verstecken? Während so Furcht und Scham in ihm kämpften, erblickten ihn seine Hunde. Da plötzlich stürzte die ganze Meute –
    fünfzig an der Zahl – auf den vermeintlichen Hirsch ein. Nach Beute gierig, jagten sie ihn über Berg und Tal, über zackige Felsen und gähnende Klüfte. So flog der Geängstete durch die wohlbekannten Gegenden, wo er oft das Wild verfolgt hatte, nun selbst der Verfolgte. Zweimal wollte er sich wenden und flehend rufen:
    »Schonet meiner! Ich bin ja Aktäon.« Aber die Rede war ihm versagt. Jetzt mit wütendem Gebell erreichte ihn der Führer der Meute, ihn im Rücken packend, und nun stürzten sie alle über ihn her und verwundeten ihn mit den scharfen Zähnen. Tiefauf stöhnte der Gequälte – ach, so winselt kein Hirsch! und doch ist es kein menschliches Stöhnen. Einem Bittenden ähnlich sank er auf die Knie und wendete in stummem Jammer das Antlitz nach seinen Peinigern. In diesem Augenblick kamen seine Genossen herbei, durch das Gebell der Hunde herangelockt. Mit gewohntem Zuruf hetzten sie die klaffende Meute und riefen umsonst nach ihrem Herrn, den sie entfernt glaubten. »Aktäon«, tönte es durch den Wald, »wo bist du, den herrlichen Fang zu schauen?« So riefen sie, während der Unglückliche unter den Speeren seiner Freunde den Geist aufgab.
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    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    Nachdem Aktäon so schrecklich geendet hatte, begannen seine Hunde den lieben Herrn zu vermissen; heulend und winselnd suchten sie den Verlorenen überall, bis sie endlich zur Höhle des Chiron gelangten.
    Dieser fertigte aus Erz ein täuschend ähnliches Bild des armen Jünglings. Als die Hunde dasselbe erblickten, sprangen sie an dem fühllosen Erz in die Höhe, leckten ihm schmeichelnd die Hände und Füße und gebärdeten sich so fröhlich, als hätten sie ihren Herrn wirklich wiedergefunden.
    PROKNE UND PHILOMELA
    In Athen herrschte einst der König Pandion, der Sohn des erdgeborenen Erichthonios und der Nymphe Pasithea. Er vermählte sich mit der schönen Najade namens Zeuxippe, die ihm die Zwillinge Erechtheus und Butes und zwei Töchter, Prokne und Philomela, gebar. Da begab es sich, daß der König von Theben, Labdakos, mit Pandion in Streit geriet und verheerend in Attika einbrach. Trotz tapferen Widerstandes wurden die Athener in ihre Stadt zurückgedrängt, und Pandion wandte sich in der Not um Hilfe an den streitbaren thrakischen Fürsten Tereus, einen Sohn des Kriegsgottes Ares. Dieser kam schnell über das Meer gefahren und verjagte mit seinen trotzigen Kriegern die Thebaner bald aus dem attischen Lande.

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