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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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verstummte sie, traurige Tat im Busen bedenkend. Jetzt sprang der Kleine an ihr in die Höhe, hängte sich ihr schmeichelnd an den Hals und bedeckte ihr den Mund mit Küssen. Aber nur einen Augenblick bebte das Herz der Mutter, nur eine Träne fiel auf das Antlitz ihres Sohnes. Dann riß sie ihn mit sich fort in ein anderes Gemach. »Ach Mutter, liebe Mutter, was tust du?« rief das Kind, ängstlich sie umhalsend. Sie aber war taub, wahnsinnige Rachgier drängte sie zu rasender Wut, sie erfaßte ein Messer und stieß es in die Brust des eignen Kindes, das Philomela vollends umbrachte.
    Auf dem Throne seiner Ahnen saß der König Tereus und schmauste von dem Mahle, das sein Weib selber ihm auftrug. »Wo ist mein Itys?« rief er, als er den Hunger gestillt hatte. »Er ist ja hier«, erwiderte mit Hohnlachen das Weib, »nicht näher könnt er dir sein.« Mit fragenden Blicken schaute Tereus sich um, da trat Philomela, noch triefend vom gräßlichen Mord, herein und warf das blutige Haupt des Kindes dem Vater vor die Füße. Nun ward's dem König furchtbar klar; wahnsinnig schreiend stieß er den Tisch mit dem scheußlichen Mahle um, riß sein Schwert aus der Scheide und stürzte den fliehenden Schwestern nach. Sie schienen von Fittichen getragen zu werden. Ja, wirklich hoben Flügel sie empor: die eine floh in den Wald, 387
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    die andere schwang sich unter das Dach. Prokne war zur Nachtigall, Philomela zur Schwalbe geworden; noch trägt sie am Brustgefieder blutige Flecken, die Spur des Mordes. Aber auch der ruchlose Tereus, der sie verfolgte, sollte nicht mehr unter Menschen wandeln, er ward zum Wiedehopf. Mit hoch emporragendem Helmbusch und langem, spitzigem Schnabel verfolgt er auf ewig die Nachtigall und die Schwalbe1.
    PROKRIS UND KEPHALOS
    Die schönste unter den Töchtern des Erechtheus war Prokris. Mit ihr war Kephalos, ein Sohn des Hermes und der Kekropstochter Herse, durch innige Liebe verbunden, und als Erechtheus ihre Hände am Hochzeitstag aneinandergelegt hatte, priesen sie alle Athener als die glücklichsten Gatten. Doch dieses Glück sollte nicht von langer Dauer sein. Kaum war der zweite Monat vergangen, als Kephalos eines Morgens auf die Hirschjagd hinauszog in die Wälder des Hymettos. Da erblickte den göttergestalteten Jüngling die rosige Eos (Aurora), und von zärtlicher Leidenschaft ergriffen, entführte sie ihn durch die Luft in ihren strahlenden Palast. Aber so schön sie war, das Herz des Kephalos vermochte sie nicht zu umstricken; er dachte nur an seine traute Gattin, mit Tränen im Auge rief er ihren Namen und flehte die Göttin an, ihn seiner geliebten Prokris wiederzugeben. Traurig, doch nicht ungerührt, hörte ihn Eos und sprach: »Still, Liebloser! Genug der Klagen! Du sollst deine Prokris wieder besitzen. Doch ich ahn es, es kommt die Zeit, wo du sie nie gesehen zu haben wünschest.« So sprach sie grollend und entließ ihn.
    Während er nun nach der Heimat eilte, kamen ihm die Worte der Göttin nicht aus dem Sinne, und indem er über ihre Bedeutung nachgrübelte, stieg allmählich Furcht in ihm auf und Argwohn, ob auch Prokris ihm den Schwur der Treue unverbrüchlich gehalten. Endlich beschloß er, in verwandelter Gestalt das heimische Haus zu betreten, um die Gattin zu prüfen, und Eos selbst schien die Züge seines Angesichts zu verändern.
    So ging er nach Athen und trat in sein Haus. Dort fand er nichts Tadelnswürdiges; alles verkündete die sittsame Zucht der Herrin und ihre Sorge um den verschwundenen Gatten. Durch manche Listen gelang es ihm, sich Eingang bei der Tochter des Erechtheus zu verschaffen, aber alle seine Künste scheiterten an ihrer Treue. Da ward es ihm schwer, seine Verstellung nicht aufzugeben. Am liebsten hätte er sich dem edlen Weibe an die Brust geworfen, sie mit Küssen und Tränen bedeckt. Aber in unheilvoller Verblendung genügte ihm die bestandene Probe nicht, und als er nun immer reichere Geschenke versprach und sie überredete, Kephalos sei nicht mehr am Leben, da begann zuletzt Prokris' standhafter Sinn zu wanken. Alsbald übermannte ihn unbilliger Zorn, und er rief: »Treulose, du bist entlarvt! Wisse, ich bin dein Gatte, den du verraten wolltest.« Sie antwortete ihm nichts; gekränkt und von Scham und Trauer gebeugt, floh sie das Haus des arglistigen Mannes. Auf der fernen Insel Kreta irrte sie in den Bergen umher, im Gefolge der jagdliebenden Artemis, der jungfräulichen Göttin, denn alle Männer

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