Sagen des klassischen Altertums
der Heimat zu. Tereus aber schleppte Philomelen in ein einsames, tief im Urwald verstecktes Hirtengehöft. Dort schloß er die Erblassende ein, und als sie weinend nach der Schwester fragte, log der Verräter mit erheuchelter Trauer, Prokne sei gestorben; um den alten Pandion zu schonen, habe er das Märchen von der Einladung ersonnen; in Wahrheit sei er gekommen, um sie, Philomelen, zu seiner Gattin zu machen. Kein Jammern und Flehen fruchtete, die rührendsten Worte prallten wirkungslos an dem steinernen Herzen des Barbaren ab. So fügte sie sich unter bittern Tränen der Gewalt und ward seine Gemahlin. Aber es währte nur kurze Zeit, bis sie zur Besinnung kam, und nun stiegen schreckliche Ahnungen und bange Zweifel in ihr auf. ›Warum‹, fragte sie sich, ›hält Tereus mich hier, fern von seinem Hofe, wie eine Gefangene? Warum läßt er mich so ängstlich bewachen? Warum fährt er mich nicht als Königin in seinen Königspalast?‹ – Da erfuhr sie, als sie einst ungesehen das Gespräch ihrer Diener belauschte, das Furchtbare: Prokne lebt! Ihre eigne Vermählung mit Tereus ist Verbrechen; sie ist die Nebenbuhlerin der totgeglaubten Schwester! Da faßte sie namenloser Jammer und glühender Haß gegen den Verräter, mit fliegender Hast stürzte sie in sein Gemach, erzählte ihm, was sie erfahren, und schwur unter heißen Verwünschungen, das gräßliche Geheimnis, seine Schuld und ihre Schande, aller Welt zu verkünden. So erregte sie den Zorn und zugleich die Furcht des Verruchten. Da faßte er einen teuflischen Entschluß. Sicher wollte er sein, daß seine Schmach niemand erfahre; doch scheute er sich, die Wehrlose zu morden. Also riß er sein Schwert aus der Scheide, band der Unglücklichen die Arme auf den Rücken und zückte den Stahl, als ob er sie töten wollte. Sie erwartete freudig den Streich, der sie dem verhaßten Leben entreißen sollte; aber wie sie schmerzlich den Namen des lieben Vaters ausrief, schnitt der Unmensch ihr –
schrecklich ist es zu sagen – die Zunge aus. Nun brauchte er keinen Verrat mehr zu fürchten. Kalt, als wäre nichts geschehen, verließ er die Ärmste, den Dienern strenge Bewachung einschärfend. Er selbst ging zurück an den Hof zu seinem Weibe Prokne. Diese fragte, wo die Schwester denn bleibe. Da seufzte der Nichtswürdige und erzählte mit erheuchelten Tränen, Philomela sei tot und begraben. Prokne riß voll unendlichen Schmerzes die goldgestickten Gewänder herab, hüllte sich in schwarze Trauergewande, baute ein leeres Grabmal und brachte, die geliebte Schwester beweinend, ihrer Seele Totenopfer.
So verging ein Jahr, und noch immer lebte die grausam verstümmelte Philomela. Wächter und Mauern versperrten ihr die Flucht; ach, und der Mund war stumm, unfähig, die Schandtat zu verkünden. Aber das Elend schärft den Verstand und lehrt Erfindungen. Am Webstuhl spannte sie das Linnen aus und wirkte purpurne Zeichen hinein, in denen sie das Gräßliche offenbarte. Und als sie es vollendet hatte, gab sie das Gewebe einem Diener, indem sie ihn durch stumme Gebärden anflehte, es der Königin Prokne zu überbringen. Jener gehorchte ihr, ohne zu wissen, was er tat. Prokne entrollte das Gewand und las das entsetzliche Geheimnis. Da entfuhr kein Seufzer ihrem Munde, keine Träne vergoß sie – ihr Jammer war zu groß dazu; nur eines konnte sie denken, nur eines fassen: Rache, fürchterliche Rache an dem Verbrecher!
Die Nacht nahte, in der die thrakischen Frauen das Fest des Bakchos in wilder Begeisterung zu feiern pflegten. Auch die Königin eilte, mit Reben bekränzt, den Thyrsosstab in den Händen schwingend, mit der Schar der Weiber hinaus in die waldigen Berge. Wütenden Schmerz im Innern, heuchelte sie bakchantische Wut. So kam sie an das einsame Gehöft, wo Philomela gefangen war. Mit Evoeruf brach sie hinein, riß die Schwester mit sich fort und führte sie, das Antlitz ihr mit Efeuranken verbergend, in den Palast des Königs Tereus. Da erst erkannte die arme Philomela ihre Schwester, die sie in ein abgelegenes Gemach brachte.
»Nicht Tränen helfen uns«, rief Prokne, als die Unglückliche ihr bleiches Antlitz verhüllte, »nein, Blut, Stahl, gräßlichster Mord. Zu jedem Greuel bin ich bereit, o Schwester, um dem verruchten Manne seine Schandtat zu vergelten.« Während sie so redete, trat ihr kleiner Sohn Itys herein, der die Mutter begrüßen wollte. Sie aber starrte ihn düsteren Blickes an und murmelte: »Ha, wie gleicht er dem Vater!« Da plötzlich
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