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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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daß sie von ihrem eigenen Sohn Kinder empfangen hat. Iokaste kann mit dieser Schuld nicht leben, sie erhängt sich.
    Nun gelingt es auch Ödipus nicht mehr, die Wahrheit abzudrängen. Der Schmerz der Einsicht ist so gewaltig, und die Schuldgefühle sind so groß, daß er sich schreiend die Haare rauft, daß er aus dem Haar der toten Iokaste die Spange nimmt und mit der Nadel die eigenen Augen durchsticht.
    Er blendet sich. Am Beginn seines Lebens wurden ihm die Füße durchbohrt, damit er nicht mehr gehen kann, am Ende seines Lebens durchsticht er sich selbst die Augen, damit er nicht mehr sehen kann.
    Seine letzte Tat als König: Er erteilt sich selbst den Befehl, die Stadt zu verlassen. Als König Ödipus verbannt er den Menschen Ödipus. Er zieht ein härenes Gewand an und geht. Nur eine seiner Töchter, Antigone, verläßt mit ihm gemeinsam die Stadt Theben.
    Ich möchte hier einfügen, was Schiller zu der Tragödie »König Ödipus« des Sophokles geschrieben hat:
    »Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt, wobei das Geschehene als unabänderlich seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen sein könnte, das Gemüt ganz anders affiziert als die Furcht, daß etwas geschehen wird.«
    Mit diesem Stück hat Sophokles die Grundlage der klassischen Tragödie im Abendland geschaffen, und wenn Aristoteles in seiner »Poetik« die Tragödie untersucht und wenn er Regeln aufstellt, wie eine Tragödie zu bauen sei, dann bezieht er sich auf den »König Ödipus« von Sophokles. Was wir heute Theaterdramaturgie in einem klassischen Sinn nennen, und das trifft auch auf den Aufbau der meisten Spielfilme zu, beruht letztendlich auf diesem wunderbaren Entwurf, den Sophokles vor rund zweitausendfünfhundert Jahren vorgelegt hat.
    Ödipus, begleitet und geführt von seiner liebsten Tochter Antigone, die ja gleichzeitig auch seine Halbschwester ist, durchstreift das Land, selbst hat er sich das Augenlicht genommen, damit er nicht weiter auf die Folgen seiner Schuld schauen muß, den Fluch trägt er auf seinen Schultern, so gelangt er endlich nach Kolonos, einer Ortschaft nahe von Athen.
    Aber welch absonderliche Willkür des Geschicks! Ödipus eilt ein Orakelspruch voraus, der besagt: »Die Stadt, in der Ödipus sterben wird, wird ewig Glück haben.«
    So kommt es, daß die Söhne des Ödipus, Polyneikes und Eteokles, die gleichzeitig seine Halbbrüder sind, denn er hat sie ja mit seiner Mutter Iokaste gezeugt, daß diese Söhne, die inzwischen in Theben um die Macht kämpfen, großes Interesse haben, daß ihr Bruder-Vater zurück nach Theben komme, um dort zu sterben. Sie wissen auch, nur derjenige wird die Macht erlangen, der von Ödipus gesegnet wird.
    Polyneikes streift umher, findet den Ödipus, bittet ihn, er möge ihn vor seinem Bruder segnen. Aber Ödipus weiß, neuer Fluch soll gesät werden, und er verweigert seinen Segen. Auch Eteokles kommt, auch ihn weist Ödipus ab.
    Es meldet sich schließlich auch Kreon an. Kreon, der Schwager-Onkel des Ödipus, der immer im Hintergrund stand, im Abseits, hat sich auf die Seite des Eteokles geschlagen, weil er der weichere der beiden Brüder ist, der sich leichter beeinflussen läßt. Aber Ödipus durchschaut auch Kreons Absichten. Er läßt ihn erst gar nicht vor, weist Kreon ab.
    Da rückt Kreon mit einem Heer heran. Er will Ödipus mit Gewalt nach Theben schleppen. Ödipus bittet Theseus, den König von Athen, um Hilfe, und Theseus stellt sich ihm zur Seite.
    Ödipus stirbt in Athen, und Theben ist für immer vom Glück verlassen, während Athen zu einer der großen Städte der Weltgeschichte aufsteigen wird. Auch das rechnet der Mythos dem Ödipus zu.
    Nun nimmt die ganze Geschichte eine neue tragische Wendung. Antigone, des Ödipus liebste Tochter, ist einem Sohn des Kreon versprochen, nämlich Haimon. Die beiden lieben sich. Das Schicksal wendet sich Antigone zu. Auf sie stürzt das Verhängnis.
    Polyneikes und Eteokles treiben ihren Streit auf die Spitze, in einem Zweikampf fallen sie beide, sie erschlagen sich gleichzeitig, verletzen sich so sehr, daß beide an den Wunden sterben. Kreon reißt die Macht ganz an sich. Er verbietet mit Androhung der Todesstrafe, daß Polyneikes begraben wird. – Um dieses Verbot kreist die moralische Frage in der Tragödie »Antigone« von Sophokles.
    Antigone kehrt nach Hause zurück, weil sie Haimon heiraten möchte. Sie kann nicht

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