Sagen des klassischen Altertums
Hölle, Geisterwelt und banalste Realität – alles, was unter unserer Schädeldecke Platz hat, es wird in diesen vielleicht wunderbarsten Geschichten, die sich Menschen auf diesem Erdenrund je erzählt haben, in Bilder gefaßt.
Was ist es, daß uns die Geschichten von Achill, Orpheus, Antigone, Daidalos und Ikaros, Paris und Helena immer noch interessieren, daß wir gebannt den Monologen des Ödipus lauschen, daß wir über die Zustände im Götterhimmel lachen, daß wir mit Kribbeln den Liebschaften des Göttervaters Zeus nachspüren, aber auch daß wir dem Dulder Odysseus von Herzen eine glückliche Heimkehr und dem Rächer Orest endlich seine Ruhe wünschen? All diese Geschichten sind dreitausend Jahre alt und älter, und sie sind schon unzählige Male erzählt worden, und man darf getrost die Voraussage wagen, daß die Menschheit bis an ihr Ende die Erinnerung an diese Geschichten nicht verlieren wird.
Der Mythos erzählt freilich vom Gewesenen, Vergangenen, aber von einem Vergangenen, dessen Folgen bis heute anhalten, somit vom Werden und Gewordensein – von uns. Spätestens seit Freud wissen wir, daß jeder von uns Ödipus ist, daß jedem von uns auferlegt ist, in sich nach vergangener, verschütteter Schuld zu graben, und zwar sein Leben lang. In der alten Tragödie des Königs, der sich am Ende selbst das Augenlicht nimmt, weil es verheerend ist, allzu tief in des Menschen Herz zu schauen, erkennen wir uns wieder.
Über die Jahrtausende haben die Generationen mit Ödipus mitgelitten, mit Odysseus mitgebangt, mit Helena mitgeliebt, mit Achill mitgekämpft; und es scheint beinahe, als sei in diesen alten Sagen für alle Zeiten des Menschen Antlitz gefurcht worden, als sei darin vorgegeben worden, wie der Mensch zu lachen und zu weinen habe.
Diese Sagen sind ein schwarzer, tiefer Spiegel, in dem wir uns immer wieder betrachten, weil er unser Bild sowohl in seiner Klarheit als auch in seiner Rätselhaftigkeit wiedergibt.
An diesem Netz haben Generationen geknüpft. Jeder, der eine Geschichte weitererzählt hat, hat sie im Erzählen zu seinem Eigentum gemacht, hat sie erzählend neu erfunden, hat der Geschichte seine eigene Seele geliehen.
Deshalb sind diese Mythen zwar unausschöpflich, aber jeder kann sie verstehen, es bedarf keines Professorentitels dazu, denn jeder, der erzählt, ist im Augenblick des Erzählens ein Experte.
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