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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zusehen, wie ihr Bruder Polyneikes auf dem Schlachtfeld liegenbleibt, wie die Vögel und die Hunde seinen Körper zerreißen. Sie weiß, wenn nicht Erde über ihn gedeckt wird, dann wird er keine Ruhe finden. Es ist ein Gewissenskonflikt für Antigone, sie weiß, sie muß ihrem Bruder diesen letzten Gefallen tun, aber sie weiß auch, es wird sie das Leben kosten.
    Antigone will, daß der Fluch, der auf ihrem Geschlecht lastet, endlich ein Ende findet. Sie weiß, wenn sie das Verbrechen begeht, ihren Bruder nicht zu bestatten – vielleicht nicht ein Verbrechen vor den Menschen, aber ein Verbrechen vor den Göttern –, dann wird dieser Fluch weiterwirken und auch ihre Kinder und Kindeskinder erfassen. Sie hofft auf die Einsicht des Kreon.
    Bei Sophokles spricht sie einen ganz entscheidenden Satz: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« Das heißt soviel wie: »Ich bin dazu ausersehen worden, diesen Fluch abzuschneiden; ich bin geboren, um diesen Fluch, der auf unserem Geschlecht liegt, endlich zu beenden.«
    So schleicht sie sich nachts hinaus auf das Schlachtfeld und streut wenigstens symbolisch eine Handvoll Erde auf ihren toten Bruder Polyneikes.
    Sie wird verhaftet und eingesperrt.
    Ihr Verlobter Haimon, der Sohn des Tyrannen Kreon, bittet um ihr Leben, er kniet vor dem Vater nieder, umfaßt die Beine des Vaters, fleht: »Laß Antigone leben, laß uns dieses Glück, sei nicht so grausam, beharre nicht auf deinem Gesetz!«
    Es ist sinnlos. Kreon beharrt weiter. Er läßt nicht mit sich reden.
    Er ist immer übergangen worden. Kreon ist eine Randfigur von Anfang an. Zuerst war Laios an der Macht. Nach seinem Tod gelang es Kreon nicht, die Sphinx zu besiegen. Ödipus kam. Kreon hat wieder auf den Thron verzichten müssen. Dann waren die beiden Söhne da, die sich um die Thronfolge gestritten haben. Auch damals war Kreon nur eine Randfigur, mußte sich darauf beschränken, Einfluß auszuüben. Jetzt haben sich beide Söhne des Ödipus umgebracht. Jetzt sitzt er, Kreon, endlich an den Hebeln der Macht.
    Gegen seinen eigenen Sohn Haimon verschließt er sich und sagt: »Nein! Was ich bestimmt habe, ist Gesetz.«
    Aber Haimon läßt mit seinen Bitten nicht ab. Schließlich scheint Kreon doch nachzugeben.
    »Gut«, sagt er. »Ich will deiner Antigone das Leben schenken.«
    Der Sohn will seinen Vater vor Glück umarmen. Aber Kreon ist grausamer, als es sein Sohn für möglich hält.
    »Antigone soll zwar nicht sterben«, sagt Kreon, »aber frei wird sie nicht sein.«
    Er läßt die Tochter des Ödipus in ihrem Gefängnis einmauern. Nur ein schmaler Schlitz bleibt in der Mauer offen, durch ihn werden Wasser und Brot gereicht. – Das ist schlimmer als der Tod.
    Antigone kauert in ihrem engen Verlies.
    Draußen weint ihr Verlobter Haimon.
    Versteinert sitzt Kreon auf dem Thron der Macht und läßt sich nicht umstimmen.
    Da taucht abermals Teiresias, der blinde Seher, auf und gibt Kreon ungebetenen Rat.
    Er sagt: »Die Toten grab ein und die Lebendigen grab aus.«
    Er soll den Polyneikes endlich ordentlich begraben und Antigone aus ihrem Gefängnis frei lassen.
    Teiresias sagt weiter: »Wenn du das nicht tust, Kreon, wird der Fluch des Ödipus auf dich und auf dein ganzes Geschlecht übergehen.«
    Da wird Kreon unsicher, und schließlich gibt er nach. Er läßt Polyneikes begraben und bricht die Kammer auf, in der Antigone schmachtet. Haimon, sein unglücklicher Sohn, will seinem Vater überschwenglich danken – aber zu früh: denn als das Verlies aufgebrochen wird, findet man Antigone erhängt.
    Haimon, als er sieht, daß seine Verlobte tot ist, stürzt sich in sein Schwert. Kreons Frau springt von der höchsten Zinne, als sie sieht, daß ihr Sohn in seinem Blut liegt. – Die Tragödie des Sophokles endet mit dem schuldbewußten Klageruf des Kreon:
     
    So führt mich hinweg, mich törichten Mann,
    der willentlich dich, mein Kind, nicht erschlug,
    auch dich nicht, mein Weib! Ich weiß ja nicht mehr,
    wohin schaun, wohin mich wenden; alles, ach,
    gleitet mir aus der Hand; über mein Haupt entlud
    sich Unheil mit nicht ertragbarer Wucht.
     
    In der Tragödie des Ödipus fällt uns auf, daß der Seher Teiresias immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte, gleichsam als das Satyrstück zur Tragödie, von diesem Seher erzählen.
    Er hat eine durchaus humorige Geschichte. Warum ist er blind? Dafür gibt es zwei verschiedene Erklärungen. Ich möchte beide Versionen erzählen, weil sie beide hübsch sind und

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