Sagen des klassischen Altertums
sie selbst zum Raub darstellte den
Hunden
Und dem Gevögel umher …«
Achill und Patroklos mußten fürwahr mächtige Streiter gewesen sein; denn sobald sie nicht mehr in den Reihen der Griechen fochten, drangen die Trojaner immer weiter vor. Dieser eine Mann mit seinem Freund an der Seite hatte sie all die Jahre über aufgehalten? Wir müssen es annehmen. – Die Sache der Griechen sah schlecht aus.
Es wurden Abordnungen in das Zelt des Achill geschickt. Odysseus ging hin, Nestor ging hin. Aber Achill ließ sich nicht überreden. Er blieb stur und sah höhnischzufrieden zu, wie sich die Unverschämtheit des Agamemnon rächte. Eine Zeitlang schaute er zu.
Schließlich wurde ein Kompromiß geschlossen.
Achill sagte: »Gut, Patroklos, du bekommst meine Rüstung. Tu mit! Zeig ihnen, was kämpfen heißt!«
Achill gab seinem Freund jene goldene Rüstung, die Hephaistos als Hochzeitsgeschenk seinem Vater Peleus überreicht hatte.
»Zieh die Rüstung an, Freund, kämpfe für mich. Die anderen gehen dich nichts an. Nur für mich und meinen Ruhm sollst du kämpfen.«
Patroklos kämpfte. Aber er war bei weitem nicht dieser geschickte Streiter wie Achill. Jetzt stellte es sich heraus. Schon am ersten Tag, schon in der ersten Stunde, in der er allein, ohne seinen Freund neben sich, auf dem Schlachtfeld stand, wurde er vom berühmtesten Helden der Trojaner, von Hektor, erschlagen.
Welch eine Katastrophe für Achill!
Mit dieser Trauer, die den Achill nun erfüllte, hatte niemand gerechnet. Achill war am Boden zerstört. Achill war zerschmettert. Eine Traurigkeit erfaßte ihn, ein Schmerz, wie ihn die Antike nur noch von Orpheus kannte, als dieser seine Eurydike verloren hatte. Die Kämpfe wurden für einige Tage unterbrochen. Alles war unwichtig geworden, alles drehte sich nur darum, Achill zu beruhigen. Auch die Trojaner hatten Respekt vor dem großen Schmerz ihres Feindes. Es werden Trauerfeierlichkeiten abgehalten, wie sie keinem Kriegsteilnehmer bisher gegönnt wurden. Mit ausschweifenden Worten erzählt uns Homer davon, fast zwei Gesänge lang dauert die Schilderung der Totenfeiern für Patroklos.
Schließlich braucht es keine Überredung mehr, um Achill auf das Schlachtfeld zurückzuholen. Achill zieht wieder seine goldene Rüstung an und schwört: »Es gibt nur noch eines im Leben, was für mich Sinn hat, nämlich Hektor zu töten.«
Es kommt zum Zweikampf zwischen Achill und Hektor. Es ist ganz und gar nicht klar, wer diesen Kampf gewinnen wird. Hektor war ein gewaltiger Krieger, auch ein kluger Krieger. Aber Athene hat auf sehr unfaire Art und Weise bei diesem Kampf ihre Finger im Spiel gehabt, sie hat den Hektor während des Schlagabtausches geblendet, und Achill konnte Hektor töten.
Vor dem Kampf hatte Hektor seinen Feind Achill gebeten: »Laß uns, ganz gleich, wer von uns beiden den anderen besiegt, laß uns gegenseitig ein Versprechen abgeben: Der Sieger soll den toten Körper des Besiegten ehren.«
Aber Achill sagte: »Dich werde ich nicht ehren.«
Nachdem er ihn erschlagen hatte, schleifte Achill die Leiche des Hektor um den Scheiterhaufen, der für seinen toten Freund Patroklos errichtet worden war. Er tat das, um Hektor noch im Tode zu demütigen. Oben auf den Stadtmauern stand Priamos, der alte, greise Vater des Hektor, stand Hekabe, die Mutter, stand Andromache, die Gattin des Hektor, und sie blickten hinunter auf ihren Sohn und Gatten, dessen Körper geschändet wurde.
Nun folgt die vielleicht seltsamste Szene in der Ilias, auch die berührendste Szene, die ich oft und oft, immer wieder, gelesen habe, und jedesmal hat es mir das Herz zusammengeschnürt. – Priamos, der Greis, der König von Troja, der schon so viel Entsetzliches in seinem Leben erlebt hat, geht auf nackten Füßen, nur mit einem Schurz bekleidet, über das Schlachtfeld. Er geht, alles Hohngelächter mißachtend, auf das Zelt des Achill zu. Er fällt vor seinem Erzfeind Achill auf die Knie und bittet ihn, er möge ihm den Leichnam seines Sohnes Hektor herausgeben. Es stehen sich gegenüber der vor Schmerz rasend gewordene Achill auf der einen Seite, voll Verzweiflung über den Tod seinen geliebten Freundes Patroklos, und der von Kummer niedergedrückte Vater des Hektor auf der anderen Seite. Und sie sind Feinde, wie es Feinde nur geben kann. Aber in diesem Augenblick, es ist, behaupte ich, der berührendste Augenblick in der ganzen antiken Literatur, in diesem Augenblick stehen sich zwei Trauernde gegenüber, nur zwei
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