Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Prolog
Liebe Schwester,
ich habe lange gezögert, diese Zeilen zu schreiben, denn sie können meine Zukunft zerstören. Um das zu erlauben, habe ich zu hart gerungen; ich möchte wie jeder Mensch ein gutes Leben haben, nie hungern oder frieren, nie mehr den Nacken beugen. Ich möchte, dass man mir mit Respekt begegnet.
Es ist unendlich lange her, seit wir uns zuletzt trafen, manchmal glaube ich, jene Zeit zu vergessen.
Nun sehe ich Dich lächeln. Ungeduldig über meine törichten, nur die Zeit verschwendenden Gedanken, zugleich nachsichtig, wie Du es auch mit mir warst. Wenn ich mich aber in meinen schlichten, für mein Empfinden immer noch ungemein schönen Kleidern sehe, meine helle Haut, das sorgfältig frisierte Haar, die Hände ohne Schwielen und Schrunden, bin ich manchmal noch verblüfft. Das ist gut, diese Fremdheit vor mir selbst bewahrt mich vor Hochmut. Denn natürlich kann ich nie wirklich vergessen, wer ich war, wer ich bin. Und wem ich Dank schulde. Ebenso wenig, wem ich alles andere als Dank schulde. Das allerdings würde ich gerne vergessen. Du hingegen wirst dich stets bemühen, nicht zu vergessen, wer Dir Leid zugefügt hat.
Völlig ändern wir Menschen uns sicher nie. Gleichwohl würdest Du mich heute kaum mehr erkennen, sollten wir uns unversehens begegnen – und das könnte bald geschehen. Vor allem die Zeit, aber auch meine Stellung im Leben haben meine äußere Gestalt und Erscheinung verändert, meine Manieren, meine Sprache, sogar mein Denken. Ich musste nur wenig dazu tun, und da es mir leichtfiel, glaube ich, dass alles richtig war und auch der Weg in die Zukunft der richtige ist. Es geht um keine große oder gar gemeine Lüge, es geht nur um eine Kleinigkeit, genau genommen nur um ein corriger la fortune . Warum sollte es verwerflich sein, dem Glück ein wenig nachzuhelfen, wenn es doch niemandem schadet?
Ich habe gewiss nicht alles alleine geschafft, letztlich das wenigste, ich hatte großzügige Hilfe, ohne die ich noch die Gleiche wäre wie vor Jahren. Obwohl es oft mühsam und demütigend war, erkannte ich die Chance und war willfährig. Vielleicht erschien ich darin schwach, tatsächlich war ich endlich stark. Du warst immer schon stark, kanntest Dein Ziel und wusstest den Weg, es zu erreichen. Und dass alles im Leben ein Handel ist und seinen Preis hat. Du warst bereit, ihn zu bezahlen, und ebenso bereit, von anderen ihren Preis zu fordern. Ich habe Dich dafür bewundert, wie für manches andere.
Alles änderte sich, und schon nachdem es mich in diese Weltgegend verschlagen hatte, fühlte ich mich beinahe frei. Ich musste weiter mit gesenktem Blick meine Knickse machen, trotzdem ist das Leben hier so anders. Du solltest allein den Garten sehen. Seine wilde Üppigkeit ist nur mit viel Mühe im Zaum zu halten und bietet viele Verstecke. Womöglich lag es auch an der immer neuen Kraft dieses Gartens, als ich begann, meine Ziele höherzustecken.
Noch einmal ist mir ein unerwartetes Glück zugefallen, ich war zu schwach, es auszuschlagen. Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages in unserer Kutsche durch die vertrauten Straßen fahre, wie ich mit freundlichem Nicken hier und dort grüße und gegrüßt werde, stellte mir vor … mit so Törichtem will ich Dich verschonen. Ich stellte mir auch anderes vor, das will ich Dir sagen. In die eitlen Bilder drängte sich eine gefürchtete Wirklichkeit, nämlich dass mich niemand freundlich grüßen wird, dass man mich anspucken wird, davonjagen.
Ach, Liebe, ich muss darauf vertrauen, dass mich niemand erkennt. Nur Du wirst mich erkennen, wenn Du mir nahe genug kommst, um in meine Augen zu sehen. Deshalb bitte ich Dich: ERKENNE MICH NICHT. Es ist die einzige Bitte seit so vielen Jahren und für alle zukünftigen.
Mein Herz wird bluten, wenn wir uns begegnen und nicht erkennen, nicht umarmen dürfen …
Kapitel 1
Fastnacht, 23. Februar 1773
Dieser Winter war unberechenbar. Nachdem er noch zu Beginn des Advents eine solche Milde vortäuschte, dass an sonnigen Plätzen Veilchen blühten, ließ er zur Weihnachtszeit plötzlich Teiche und Bäche zufrieren, dann Bille und Alster, endlich verschwand sogar die Elbe unter einer Eisdecke. Bald lieferten sich Schlittschuhläufer und Pferdeschlitten Wettrennen, und die Spaziergänger wärmten sich an den eilig errichteten Buden mit Punsch, warmem Bier oder fetten Suppen. Ganz Hamburg war auf dem Eis unterwegs, ob in Geschäften oder zum Vergnügen. Die Elbe fror in vielen, sogar in den meisten
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