Sagen des klassischen Altertums
Phäaken, sagt zu Odysseus: »Wir werden dir helfen, damit du endlich nach zehn Jahren zurückfindest nach Ithaka.«
Ein kleiner, vielleicht etwas scheeler Blick auf die »Irrfahrten« des Odysseus sei mir an dieser Stelle nicht verübelt: Sie dauerten also zehn Jahre. Zwei Jahre davon war er bei Kirke, sieben Jahre bei Kalypso …
Nun, die Phäaken geben ihm ein Schiff, die Schiffe der Phäaken brauchen keinen Steuermann, sie finden ihren Weg von allein. Während Odysseus schläft, trägt ihn das Schiff nach Ithaka. Als er erwacht, ist er zu Hause.
Hier nun schließt sich auch ein anderer Erzählkreis der Odyssee. Während Odysseus den Phäaken von seinen Abenteuern erzählt, haben wir ja die Geschichte seines Sohnes Telemach nicht vergessen. »Beeil dich«, wollen wir dem Vater zurufen, »schmücke deine Erzählung nicht zu sehr aus. Dein Sohn ist in Gefahr!«
Nun sind wir plötzlich in der gleichen Situation wie Odysseus. Wir wissen nicht, was mit Telemach ist. Was ist mit ihm geschehen? Haben ihn die Freier erwischt? Wir bangen.
Hier liegt der Grund dafür, warum mich die Frage, ob die Odyssee nun von einem oder von zwei oder von achtzehn Dichtern geschrieben wurde, nicht allzusehr aufregt. Es ist, ganz gleich wie, ein ungeheuer spannender Roman daraus geworden.
Nun ist Odysseus auf Ithaka gelandet, und wir hoffen, es ist noch nicht alles verdorben, wir hoffen, Penelope hat sich nicht bereits mit einem der Freier vermählt, wir hoffen, daß Telemach noch lebt.
Odysseus begibt sich zu seinem alten Freund Eumaios, dem Schweinehirten. Der aber erkennt ihn nicht. Zu abgezehrt vom Schicksal ist sein Herr. Der Hund Argos erkennt seinen alten Herrn, und er freut sich darüber so sehr, daß es ihm das Herz zerreißt. Er stirbt an blutendem Herzen.
Telemach lebt! Wir sind erleichtert und sehen mit einigem Staunen der Begegnung von Vater und Sohn zu. Wir haben uns ja schon vorher gefragt: Wie wird das der alte Homer machen?
Das ist ja eine ungeheuer schwierige Situation für einen Schriftsteller. Ein guter, aber doch nicht sehr guter Autor kann da alles verderben. Wie macht es Homer? Sehr kurz. Sehr kühl. Sehr sachlich. Sie umarmen sich, das ja. Aber viel mehr ist da nicht. Sofort werden Pläne geschmiedet, wie den Freiern beizukommen sei. Sorgt sich Odysseus mehr um sein Gut, als er sich auf seinen Sohn gefreut hat? Nein. Aber über all unser Verlangen nach Sentimentalität hinweg müssen wir uns doch sagen: Odysseus hat diesen jungen Mann, der nun vor ihm steht, nie gesehen. Er ist ihm ein Fremder. Ihn verbindet mit ihm nur ein Gedanke: Das ist mein Sohn. Nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren Irrfahrt ist dies ein recht abstrakter Gedanke. Telemach auf der anderen Seite sieht vor sich einen Mann stehen, von dem er bisher nur Sagenhaftes gehört hat. Er sagt sich: Das ist mein Vater. Und auch das ist lediglich ein abstrakter Gedanke. – Homer, der große, der von mir unendlich bewunderte Dichter, hat sich nicht dazu verleiten lassen, die psychologische Wahrheit einem sentimentalen Effekt zu opfern.
»Wir müssen sehr listig und sehr genau vorgehen, mein Sohn«, sagt Odysseus. »Hole deinen Großvater Laertes und hole die letzten zusammen, die noch zu uns stehen, und dann werden wir gemeinsam und mit der Hilfe der Göttin Pallas Athene die Freier deiner Mutter überwältigen.«
Odysseus, verkleidet als armseliger Bettler, trifft im Palast die Freier, die sich mit wüsten Wettspielen die Zeit um die Ohren schlagen, und er hört auch, wie Penelope aus ihrer Verzweiflung heraus eine letzte Bedingung stellt.
Penelope sagt: »Wer den Bogen des Odysseus spannen kann und damit einen Pfeil durch siebzehn Äxte hindurch schießen kann, den werde ich zum Gemahl nehmen.«
Es ist dies eine Bedingung, von der sie weiß, daß sie niemand wird erfüllen können. Aber der Wettbewerb wird veranstaltet. Es werden siebzehn Äxte aufgestellt. Dann wird der Bogen des Odysseus von der Wand genommen, und die Freier versuchen ihn zu spannen. Es ist nicht ein einziger darunter, der das könnte.
Da kommt der zerlumpte Bettler daher und sagt: »Laßt mich doch auch bei eurem Wettstreit mittun!«
Die Freier lachen ihn aus, aber er sagt: »Bitte, gebt doch einem alten Mann diese Chance.«
Um sich zu unterhalten, sagen sie: »Gut, Idiot, probier es!«
Odysseus nimmt den Bogen, reibt ihn mit Fett ein, dreht ihn über der Flamme, damit er geschmeidiger wird, legt einen Pfeil ein und schießt ihn durch die siebzehn Äxte
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