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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoite Groult
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entschließen kann, der Nacht zu weichen. Der Tag zieht sich dahin, wehrt sich, und jeder hofft irgendwo, daß er endlich, einmal, die Finsternis besiegen wird.
    * Eine alte, berühmte franz. Kinderbuchreihe, in der z. B. das Gesamtwerk der Comtesse de Ségur erschienen ist. (Anm. d. Übs.)
    Ich saß neben Gauvain, ganz dem Gefühl hingegeben, diesen heiligen Augenblick mit ihm zu teilen, ohne Hoffnung, dieses Gefühl ausdrücken zu können. Bei den Bauern spricht man sehr diskret von der Natur. Wir blieben stumm, gehemmt, verlegen darüber, daß wir erwachsener geworden waren. Die Spiele und Kämpfe der Kindheit hatten wir aufgegeben und durch nichts ersetzt. Die Lozerech-Buben und die GalloisMädchen waren im Begriff, sich in ihrer jeweiligen sozialen Schicht niederzulassen, nach dem künstlichen Aufschub der Kinderjahre, und sie richteten sich darauf ein, ihre Verbindung auf das belanglose Kopfnicken und Lächeln der Leute zu beschränken, die sich im Dorf begegnen, aber einander nichts mehr zu sagen haben, nicht einmal mehr häßliche Schimpfwörter. Man duzte sich noch, erkundigte sich höflich nach der Arbeit oder nach der Fischerei: »Na, war's ein guter Fang?« ‒ »Und du, was machen deine Prüfungen?«, Fragen, deren Antworten man mit halbem Ohr aufnahm, wie Muscheln am Strand im Winter, die man nicht einmal mehr aufliest.
    Und dann dieser Abend, wie schwebend zwischen Tag und Nacht, zwischen Traum und Wirklichkeit… Als wir uns verabschiedeten, schlug Gauvain ganz unvermittelt, trotz der Müdigkeit, die seine Züge sanfter erscheinen ließ, »einen kleinen Abstecher nach Concarneau« vor, was keine sonderliche Begeisterung hervorrief, da jeder sich nur nach seinem Bett sehnte. Trotzdem erklärte sich einer seiner Brüder bereit, mitzumachen, und um nicht das einzige Mädchen zu sein, zwang ich Yvonne, mich zu begleiten. Dazu mußte ich sämtliche Mittel einsetzen, die ich zur Verfügung hatte:
    »Du kriegst meinen neuen BH, den mit der Spitze… oder mein Eau de Cologne, Canoë von Dana.«
Gauvain war einer der wenigen im Dorf, die ein Auto besaßen, einen alten kleinen Renault, in den er nun so viele Menschenleiber einlud, wie hineinpaßten. Meine Schwester war nicht mit von der Partie: Mit fünfzehn Jahren geht man nicht tanzen nach Concarneau. Mir, die ich bisher nur den Ball der exklusiven Ecole Polytechnique oder den »Point Gamma«, das alljährlich stattfindende Fest der Ingenieurstudenten, kennengelernt hatte, mir erschien das Tanzlokal Ty Chupenn Gwen so exotisch wie ein Treffpunkt der Unterwelt. Yvonne nahm mich freundlich unter ihre Fittiche in diesem Kreis, wo ich die einzige »hergelaufene Pariserin« war inmitten einer Horde von lauten und schon etwas angeheiterten Knaben. Aber zumindest würde ich hier nicht Mauerblümchen sein, wie allzuoft auf Pariser Festen, wo mich meine Schüchternheit jedesmal hinter den Plattenspieler verbannte, wenn ich den auf der Einladung geforderten »Tänzer« nicht mitgebracht hatte.
Kaum hatten wir einen Tisch gefunden, zerrte mich Gauvain schon ‒ ohne zu fragen und bevor es ein anderer tat ‒ auf die Tanzfläche, und dabei nahm er mich so fest in seinen Arm, wie er es vermutlich bei Sturm auf seinem Fischkutter mit einem Stag machte. Ich spürte jeden Finger seiner Hand auf meinen Rippen ‒ richtige Hände, dachte ich, Hände, die das, was sie festhalten, nicht loslassen, und nicht solche blassen, vornehmen Verlängerungen, wie sie jene vornehmen und blassen jungen Leute zierten, mit denen ich in Paris Umgang pflegte.
    Er tanzte wie ein Mann aus dem Volk, wie Coupeau, der Mann von Gervaise, oder die anderen Fabrikarbeiter in Zolas Schnapsbude: mit der gleichen Schaukelbewegung der Schultern, die viel zu übertrieben war, um nach meinen bürgerlichen Maßstäben nicht vulgär zu erscheinen. Nicht ein einziges Mal trafen sich unsere Blicke, und wir wechselten kein Wort. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und auch mir fiel kein Thema ein, das ihn hätte interessieren können. Zwischen »Mögen Sie die Briefe an einen jungen Dichter?« und »Ging das Geschäft mit dem Fisch gut diese Woche?«, das ebenfalls zu verwerfen war ‒ was konnte eine Studentin der Geschichte und der alten Sprachen einem Jungen sagen, der den größten Teil seiner Zeit auf einem Fischkutter in der Irischen See verbrachte? Meine natürliche Schüchternheit, gepaart mit dem absonderlichen Gefühl, mich in den Armen des Lozerech-Sohnes zu bewegen, machte mich stumm. Aber das

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