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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Der Weg war zu schmal und holprig für einen Wagen, und so musste eben alles hinauf zum Haus geschleift werden. Zu dem Haus, das von hier aus nicht zu sehen war, obwohl sie den Kopf reckte, bis die Muskeln schmerzten. Sie sah nur rauhe vulkanische Felswände, die am oberen Ende einen Besatz aus armseliger, wüstenartiger Vegetation hatten.
    »Ich bin schneller als du!« rief Edith und hielt zwei Hutschachteln hoch über ihren Kopf, während Ida, deren Gesicht vor Vergnügen strahlte, mit ihrem Koffer über den Sand rannte.
    »Mädchen!« rief Marantha. »Hört auf damit. Ein bisschen mehr Würde.«
    Ida verlangsamte ihr Tempo pflichtschuldig, doch Edith rannte einfach weiter. Ihre Röcke waren dunkel vor Nässe, und unter ihren Schuhen stob Sand auf, und sie blieb erst stehen, als sie die kleine Erhebung oberhalb der Flutlinie erreicht hatte. Sie wäre vielleicht den ganzen beschwerlichen Weg zum Plateau und bis ins Haus hinein gerannt, wenn nicht in diesem Augenblick der Junge mit dem Maultier und dem Schlitten erschienen wäre. Edith stand einen Augenblick da und starrte ihn an, und dann ließ sie die Hutschachteln fallen, drehte sich auf dem Absatz um und kam kichernd zu Marantha gelaufen, während der Junge – Jimmie – sie anglotzte, als hätte er noch nie im Leben ein Mädchen gesehen, und vielleicht war es auch so. Marantha winkte ihm und ging ihm zum Kamm der Düne entgegen, wo er stand und sich nach den Schachteln bückte, die Edith hatte fallen lassen.
    Aus der Nähe sah sie, dass der Schlitten ein rohgezimmertes Ding aus alten Eisenbahnschwellen war, die hier, auf dieser baumlosen Insel, das bevorzugte Baumaterial darstellten. Zwei Schwellen bildeten die Kufen, auf die zurechtgesägte Bohlen genagelt waren und eine schräge Ladefläche bildeten. In der Mitte stand fest verzurrt ein Schaukelstuhl, offenbar für sie bestimmt, damit sie hinter dem Maultier sitzen konnte – zweifellos einer von Wills Einfällen. Und das war wirklich rührend: wie er sich um sie kümmerte, wie er die Dinge durchdachte, um es ihr leichter zu machen. Sie verschnaufte kurz und erkletterte den Kamm der Düne, die den Strand säumte. Der Wind zerrte derart an ihrem Hut, dass die Nadeln sich lockerten und sie ihn mit der freien Hand festhalten musste. In der anderen hielt sie die vollgepackte Tasche, die so schwer war, dass sie die Finger kaum noch spürte. Um alles noch schlimmer zu machen, verfing sich ihr Schuh in irgend etwas, einem Stück Tang oder Treibholz, so dass sie stolperte und auf ein Knie sank.
    Der Junge stand da, als hätte er Wurzeln geschlagen, und starrte von ihr zu der sich entfernenden Edith und wieder zurück. Er wirkte – das war ihr erster Eindruck, und sie bemühte sich, wohlwollend zu sein – nicht eigentlich dumm, sondern eher verwundert oder wie hypnotisiert, ein kleiner, schmächtiger, schwarzhaariger Junge mit sonnenverbranntem Gesicht, fliehendem Kinn und Augen, so dunkel wie der Schlamm auf dem Grund eines Teiches. Als er sie ein zweites Mal stolpern sah, setzte er sich hastig in Bewegung und rannte zu ihr, wobei er, um das Gleichgewicht zu bewahren, linkisch die Arme schwenkte. Wortlos reichte er ihr die Hand, um sie zu stützen, als wäre sie bereits eine Invalidin, und sie fragte sich, wieviel Will ihm erzählt hatte.
    »Du musst Jimmie sein«, sagte sie und versuchte, ihr Gesicht zu einem Begrüßungslächeln zu verziehen.
    Er zog den Kopf ein. Errötete. »Ja, Ma’am«, sagte er.
    »Ich bin Mrs. Waters.«
    »Ja, Ma’am«, sagte er. »Hab ich mir schon gedacht.«
    Sie wandte den Kopf, um seinen Blick zum Strand zu lenken. »Und das sind meine Tochter Edith – die mit dem blauen Hut – und Ida, unser Dienstmädchen. Und der Mann da – «
    »Das ist Adolph, Ma’am. Den kenn ich. Wir ... er ... also, er ist schon mal dagewesen und hat mir mit den Schafen und so geholfen ...«
    »Ja«, sagte sie und rieb ihre kalten Hände aneinander. »Na, ich hoffe, ihr werdet euch alle gut verstehen.« Sie sah zum Schlitten, zu dem Maultier mit dem tückischen Blick und den Ohren, die so aufrecht standen wie zwei Bücherstützen, und dem Weg, der sich zwischen dem Gestrüpp den Hügel hinaufwand, wo das geheimnisvolle Haus sie erwartete, und fügte hinzu: »Dieser Stuhl da – ich nehme an, der ist für mich.«
    Er nickte und bohrte die Stiefelspitze in den Sand. Sein Haar war zu lang, das konnte sie sehen, denn unter einer Mütze, wie irische Arbeiter sie gern trugen, sahen ein paar fettige Strähnen

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