San Miguel: Roman (German Edition)
gesprungener Porzellanbecher, auf dessen Boden irgend etwas eingetrocknet war. Sie atmete aus und wieder ein und dann noch einmal, tiefer jetzt, so dass ihre Lungen sich weiteten, und der Husten kam nicht. Sie wusste nicht, wie lange das Wasser schon in diesem Krug stand – seit Wills letztem Besuch? Oder hatte der Junge es heute morgen erneuert? Egal. Sie hob den Krug an den Mund und trank, bis Tropfen auf ihre Jacke fielen.
Der Augenblick ging vorüber, und sie fühlte sich etwas besser. Sie würde sich zusammenreißen und ihre Willenskraft einsetzen müssen, um wieder gesund zu werden und die Ehefrau zu sein, die sie, wie sie wusste, sein konnte, wenn sie nur dieses Gefühl der Beklommenheit hinter sich ließ, das ebensosehr wie alles andere für diesen Hustenreiz verantwortlich war. Hatte sie nicht unten, am Strand, frei und leicht geatmet? Vor nicht mal einer Stunde? Und war die Luft nicht rein, wie Will es versprochen hatte? In diesem Augenblick drehte sie sich um und sah ihr Spiegelbild. Unter dem milchigen Schimmer war eine Gestalt gefangen, die sich ganz genau so bewegte wie sie selbst, obwohl sie ihr gar nicht ähnelte, und das lag daran, dass es ein billiger Spiegel war, ein Zerrspiegel wie die auf dem Jahrmarkt. Die Frau, die Marantha anstarrte, hatte etwas Ausgezehrtes, Durchscheinendes: Die Haut am Kinn und um die Augenhöhlen war straff gespannt, und als sie sich in ihrem Reisekostüm aufrichtete, mit geradem Rücken und gereckter Brust, war da keine Wölbung, sondern nur eine glatte Fläche vom bleichen Fleck ihres Gesichts bis hinunter zum Saum des braunen Twillrocks.
Sie trat näher, ignorierte die Geräusche von unten – ein Scheppern, ein Poltern, Will, der mit erhobener Stimme eine Anweisung gab – und musterte ihr Spiegelbild genauer. Und dann, ohne eigentlich zu wissen, was sie tat, knöpfte sie Jacke und Bluse auf, so dass ihr Unterkleid mit dem weißen Spitzenbesatz zu sehen war. Ihr Schlüsselbein – so nannte man es doch, oder? – trat im trüben Licht als scharfer Knochengrat hervor, und die Brust darunter war so weiß und blutlos, dass sie aussah wie das Fleisch eines Milchkalbs. Fasziniert streifte sie, ohne auf die Kälte zu achten, das Unterkleid bis zum Rand des Korsetts herunter, so dass ihre Brüste zu sehen waren. Oder vielmehr das, was einmal ihre Brüste gewesen waren. Jetzt waren da nur noch ihre Brustwarzen, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen. Sie hatte an Gewicht verloren, natürlich, das wusste sie ja. Der erste Arzt hatte ihr eine Milchdiät empfohlen, und vom zweiten – Dr. Erringer, der sie auskultiert und schließlich mit sanfter Priesterstimme die unvermeidliche Diagnose gestellt hatte – war sie auf eine Rindfleischdiät gesetzt worden, und sie aß ja auch, sie gab sich alle Mühe, doch was der Spiegel ihr zeigte, war unbestreitbar, unvorstellbar, furchtbar, hässlich und eindeutig, denn dies war nicht das Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt, sondern die Wirklichkeit.
Ich werde mit Will sprechen, dachte sie, plötzlich wieder von Angst erfüllt und entsetzt. Ich werde ihm sagen, dass es nicht funktionieren wird, dass ich Sonne brauche, nicht dieses Zwielicht, dass ich Komfort brauche, Zivilisation, dass man mich umsorgen muss, dass das alles falsch, falsch, falsch ist. Ich werde ihm sagen, dass ich nicht seine Frau sein kann, dass ich nicht im selben Bett wie er schlafen kann, dass ich nicht tun kann, was von einer Frau erwartet wird, weil meine Knochen es nicht aushalten, meine Lunge, meine Brüste, mein Herz, mein Herz ...
Wann waren sie das letztemal Mann und Frau gewesen? Vor ihrem Blutsturz. Vor Dezember jedenfalls. Und davor, als sie so viel Gewicht verloren und Dr. Erringer ihr gesagt hatte, dass Schwindsucht keineswegs eine Erbkrankheit sei, wie man all die Jahre gedacht habe, sondern von Mikroben verursacht werde, so klein, dass sie praktisch unsichtbar seien, da hatte sie Angst gehabt, sie könnte Will anstecken, doch er hatte sie gebraucht und sie ihn, und so hatten sie den ehelichen Verkehr fortgesetzt. Unter einer Bedingung: keine Küsse. Sie küsste niemanden, nicht einmal Edith, jedenfalls nicht auf den Mund. Ihre eigentliche Angst war nicht, sie könnte der Krankheit erliegen – dies erschien ihr an ihren schlechteren Tagen zunehmend unausweichlich, ganz gleich, wie sehr Will sich bemühte, es zu leugnen –, sondern vielmehr, sie könnte die Menschen, die sie am meisten liebte, damit infizieren.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, zog sich
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