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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gesehen hatte. Zweifellos hatte Mrs. Mills ihn hier zurückgelassen. Oder einer der Schäfer. Sie musterte die Tasse, kaute und schluckte. Vor ihrem geistigen Auge tauchte kurz Charlie Curner auf, dessen Schiff auf den Wellen schaukelte, dem Festland entgegen. »Ida«, sagte sie, »hast du die Kiste mit dem Geschirr gesehen?«
    »Die muss noch im Hof sein. Oder im vorderen Zimmer.« Ida war bereits zur Zisterne auf dem hinteren Hof gegangen, hatte den großen Waschkessel gefüllt und ihn auf den Herd gestellt. Sofern jemand die mitgebrachte Seife fand, würden sie die Bettwäsche und die Bettvorhänge und den ganzen Rest kochen, und Will würde ein Seil spannen müssen – oder gab es hier schon eine Wäscheleine? Es musste eine geben. Selbst Jimmie, selbst die Schäfer mussten hin und wieder ihre Kleider waschen, und sei es nur, damit sie ihnen nicht am Leib verrotteten.
    »Tja, wäre es dann nicht eine gute Idee, sie hereinbringen zu lassen, damit man das Geschirr auspacken und einräumen kann? Wir können doch nicht vom Tisch essen oder« – sie hielt den gesprungenen Teller hoch – »von diesem Zeug.«
    »Ich weiß nicht, Ma’am, aber da stehen furchtbar viele Kisten herum, ein einziges Durcheinander. Die Männer haben alles abgeladen, ohne nachzusehen, was drin ist. Ich finde mich da überhaupt nicht zurecht.«
    »Aber ich habe sie deutlich beschriftet. Das hast du doch gesehen.«
    Ida zuckte nur die Schultern. Es war schwer für sie, das konnte Marantha sehen. Alles war Chaos, es gab tausend Dinge zu tun, nicht zuletzt musste das Essen zubereitet werden, das Festmahl, und da war ja auch der Vogel – wie hatte sie ihn nur übersehen können? – und lag, ausgenommen und gerupft, als käme er soeben vom Metzger, auf der Arbeitsfläche neben dem gusseisernen Waschbecken.
    »Der Truthahn«, sagte sie. »Ist der von – «
    »Wenn ich es recht verstanden habe, hat ihn der Junge heute morgen geschlachtet, als wir noch auf dem Schiff waren, weil Captain Waters ihm, als er vor Weihnachten hier war, gesagt hat, dass er alles vorbereiten soll. Auf dem hinteren Hof läuft eine ganze Herde davon herum. Und Hühner auch. Sie sollten sich das mal ansehen, wirklich. Gerade ist die Sonne rausgekommen, und draußen ist es herrlich. Das wird Ihnen guttun, bestimmt.« Sie wandte sich wieder zum Herd und zu den Kartoffeln, die in einem fremden Topf kochten, dem Topf eines Schäfers, verbeult und geschwärzt. »Und Captain Waters hat gesagt, um drei sollen wir aufhören zu arbeiten, weil nämlich ein Feiertag ist und er uns die Insel zeigen will.«
    Durch das Fenster, das vom Flugsand ebenso milchig geworden war wie die Fenster im vorderen Raum, konnte sie kaum etwas sehen. Immerhin erkannte sie die Umrisse der Ställe, die Lattenzäune und dahinter die Hügelflanke, die langsam zum höchsten Punkt der Insel anstieg, dem Green Mountain, 253 Meter über dem Meeresspiegel, wie Will mit seinem Teodoliten festgestellt hatte. 253 Meter. Er war stolz auf diese Zahl, unerhört stolz, als hätte er einen Alpengipfel eingefangen und verkleinert, damit er hierherpasste, auf seinen privaten Besitz.
    »Wir sind ja alle so aufgeregt«, sagte Ida und ging zu dem Hackklotz und dem Truthahn, der gefüllt werden musste. Sie schnitt Zwiebeln und Sellerie und zerbröselte einen Kanten Brot. Ihre Bewegungen war beherrscht und akkurat, ihre Schultern hoben und senkten sich, und ihre Füße beschrieben auf den ausgebleichten Dielen so anmutige Kurven, als würde sie auf der Stelle tanzen. Sie war hübsch, ziemlich hübsch, auch wenn sie Edith nicht das Wasser reichen konnte, und eine tüchtige Arbeiterin – sorgfältig, freundlich und vor allem pflichtbewusst. Ihre Eltern hießen Mullins, stammten aus Cork und waren mit dem Goldrausch über Boston nach San Francisco gekommen, wo sie mittellos gestrandet waren. Sie war ein Mädchen aus armen Verhältnissen, aus armen irischen Verhältnissen, aber nach nunmehr drei Jahren betrachtete Marantha sie ebenso als ihre Tochter wie Edith – oder jedenfalls beinahe. »Dass wir die Insel gezeigt kriegen, meine ich«, fuhr Ida fort und blickte über ihre Schulter. »Die Schafherde. Und die Robben. Hören Sie sie? Das Bellen dahinten, das sind die Robben.«
    Sie hielt den Atem an und lauschte. Sie hörte das Knistern und Rascheln des Feuers im Herd, das Summen des heißen Wassers, gedämpfte Männerstimmen, die Anordnungen gaben und bestätigten. Und im Hintergrund noch etwas anderes: vielstimmige Laute, die

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